Selimpasa
Wieder ist Tag der Einheit in Deutschland, wieder bin ich nicht da, wie bereits in den vergangenen 20 Jahren. Langsam bekommt die Reise etwas Melancholisches. Es war heute Nacht so kalt, dass ich einen Schlafsack brauchte. Morgens erwacht die Sonne immer später, auch wenn sie um sieben aufgeht, brennt sie nicht mehr so stark. Hinzu kam heute ein kühler Wind. Es ist als wäre es ruckartig geschehen, Sommer Ende, Herbst Anfang. Keiner kann sich wirklich vorstellen, was das heißt. In mir spüre ich es immer stärker, die Einsamkeit und Melancholie wächst und wird mit jeder Minute, in der es dunkel bleibt, wo es vorher hell gewesen ist, stärker. Schon vor einigen Tagen hat dieses Gefühl begonnen. Würde Nina nicht nach Antalya fliegen, wäre ich vielleicht in den folgenden Tagen umgekehrt.
Ich hatte bis jetzt eine Wahnsinnstour, habe gesehen, was es zu sehen gab, war in Ländern, in die ich sonst nicht gefahren wäre. Aber es geht dem Ende entgegen, und auch wenn es noch einige Tage dauern wird, sehe ich es schon.
Es ist übrigens nicht unbedingt die Kälte, denn die wird im Süden der Türkei wieder verschwinden. Die Dunkelheit wird das Ende bestimmen, dessen bin ich mir sicher. Ich bin schon immer ein Lichtwesen gewesen, jemand, der die Helligkeit zum Leben braucht und der sich in der Dunkelheit nicht wohlfühlt. Daher sind die Wintermonate immer die schlimmsten. Mir geht diese schläfrige Atmosphäre ab, knackende Holzscheite im Kamin, schwere Glieder, Faulheit, übertriebene Weihnachtsmärkte – das braucht es alles nicht. Ich bin gespannt, ob ich über diese Hürde hinüberkomme oder ob diese für mich endgültig ist. Einige Wochen habe ich Zeit, das herauszufinden, denn die Reise irgendwie geht weiter.
Heute hatte ich frei, zumindest was das Reisen betrifft. Nachdem ich gestern zwölf Stunden unterwegs gewesen war, wusste ich schon abends, dass es morgen keinen Weg gab, der mich wieder mehrere Stunden in den Bus bringen würde. Es war daher ein beschaulicher Tag, von denen ich in den letzten zwei Wochen wenige hatte. Natürlich habe ich meinen Roman weiter korrigiert, kam erwartungsgemäß letztlich nicht viel weiter als im Bus, doch schrieb ich wesentlich mehr um, was mich zweifeln lässt, ob diese Sessions in den öffentlichen Verkehrsmitteln wirklich so effektiv sind, wie ich dachte. Sei es drum, ich werde es weiter ausprobieren. Ein Drittel habe ich geschafft, dafür fast zwei Wochen gebraucht. Ich werde mich wirklich zerreißen müssen, wenn das nicht ewig dauern soll.
Ich fuhr nachmittags nach Selimpasa zum Wasser, hörte wieder das unregelmäßige Knacken im Radkasten und befürchte Schlimmes. Die Sprachbarriere hier ist gewaltig, ich kann mich so schon kaum verständigen, werde laufend übers Ohr gehauen, wenn es um die Preise geht. Wie soll ich einem Mechaniker deutlich machen, was ich möchte? Es wird schwierig, aber ich denke, dass ich ohnehin noch etwas beobachten werde, bevor ich jemanden konsultiere. Im Moment habe ich keine Lust darauf, zumal das Geräusch auch zu unregelmäßig, manchmal gar nicht auftritt.
Selimpasa selbst ist nicht der Rede wert. Der Strand ist schmutzig, es riecht nicht besonders gut, doch die Menschen sind sehr freundlich und zuvorkommend. Was mir bereits die letzten Tage aufgefallen ist, ist der beinahe ehrerbietige Respekt vor älteren Menschen. Im Bus springt jeder auf, sobald auch nur jemand einsteigt, der etwas älter ist als fünfzig. Was ich nicht oft gesehen habe, sind Kopftücher. Einige natürlich, manchmal sind sie sogar Teil des Aufzugs, passen farblich perfekt zur Kleidung. Sehr chic, um nicht zu sagen sexy. Ob das Sinn der Sache ist?
In jedem Fall fahre ich morgen noch einmal nach Istanbul. Danach ist Schluss. Es ist so anstrengend, die Strecke bringt mich auf Dauer um. Ich spüre jeden Knochen in mir und merke, dass es zwar wundervoll ist, leider jedoch nicht mehr möglich, zumindest nicht so.
Die Hagia Sophia sehe ich ganz sicher, so voll es auch immer sein mag. Ich habe gelesen, dass es sich inzwischen weder um eine Moschee noch eine Kirche handelt. Der Staatsgründer Atatürk hat sie zu einem Museum säkularisiert, so wie den ganzen türkischen Staat. Diese Leistung kann man gar nicht hoch genug bewerten. Vergleiche, wie es nicht sein sollte, finden sich hier genug, Iran oder Afghanistan, wenn die Taliban wieder regieren sollten, um die wichtigsten zu nennen. Atatürk hat schon damals erkannt, dass Religion und Politik getrennt sein müssen. Sicher keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, welch großen Einfluss der Islam hatte.
Am Dienstag dann fahre ich ein Stück zurück, um endlich Asien zu erreichen. Die Dardanellen, den Hellespont, werde ich per Fähre überwinden.
Mein nächstes ernsthaftes Ziel wird dann: Troja.