Überfahrt nach Italien
Die Zeit gestern plätscherte dahin, allerdings eher tröpfchenweise. Nachdem ich aus dem Hafengebiet geflüchtet war, installierte ich mich wieder im Ort, gegenüber eines Internetcafés, so dass ich immer wieder einmal online sein konnte. Das machte die Zeit etwas kurzweiliger. Ebenfalls bekam ich einen Eindruck, wie es sein müsste, öfter auf diese Weise zu campen. Eigentlich stand ich ständig unter Strom, wenn Leute am Auto vorbeigingen. Vielleicht würde sich das einmal geben, etwas entspannter werden, denn die meisten wird es sicher nicht interessieren, ob jemand drinnen schläft. Dennoch, ich denke nicht, dass ich mich in nächster Zukunft daran gewöhnen werde.
Gegen halb Zwölf entschied ich, dass es genug war, sicher würde die Durchfahrt durch den Zoll einige Zeit in Anspruch nehmen. Doch weit gefehlt, es dauerte fünf Minuten. Zwar durchsuchten zwei Soldaten das Auto, machten Schubladen auf und durchleuchteten das Bett, fanden natürlich nichts. Ich nehme an, dass sie eher nach versteckten Albanern oder Schwarzafrikaner suchten als nach Drogen. Meinen Ausweis wollte niemand sehen. Das ist es, was ich an Europa liebe. Kaum jemand nimmt diese Entwicklung wahr, wir sind eines. Immer mehr. Wenn ich die Zeitung lese oder Leserbriefe in Foren, dann höre ich Menschen nur meckern und beschweren, über die Sinnlosigkeit Europas. Ich kann dann nur bitter schmunzeln, denn diese Leute haben ungefähr die Weitsicht vom Küchentisch bis zum Klo. Es ist ein toller Kontinent, der sich seiner Narben zwar bewusst ist, diese aber mit Stolz trägt. Auch scheinen sie verheilt, immer noch sichtbar, aber sie schmerzen nicht mehr. Es ist vielleicht die beste Zeit, hier zu leben, die Vereinigung hat eines erreicht, sie gewährleistet den Frieden. Etwas also, das wir hier noch nie gekannt haben. Zumindest im Westen. Ich hoffe sehr, dass die Konflikte auch im ehemaligen Jugoslawien für lange Zeit der Vergangenheit angehören, so wie im Rest Europas. Allerdings bin ich Realist, irgendwann wird irgendein Spinner diese Einheit zerstören, wenn sie schwach genug ist. Ich hoffe, dass ich es nicht mehr erlebe.
Ich schweife ab. 20 vor zwölf stand ich also im Hafen, langweilte mich dort genauso wie vorher. Aber in jedem Fall fühlte ich mich sicherer, denn sie Flüchtlinge dringen hierher nicht vor. Eigentlich tun sie mir leid. Ich habe sie ein wenig beobachtet, ihre Augen gesehen. Ich sah Motivation und Entschlossenheit, kein Wunder, denn es sind Menschen, die schon viel durchgemacht haben, bevor sie überhaupt hier angekommen sind. Auch sah ich eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die sicher dazu notwendig ist, sich einer Reise wie dieser mit ungewissem Ausgang zu stellen. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich es wahrscheinlich genauso machen. Ob ich so weit kommen würde, sei dahingestellt. Im Grunde machen wir nicht genug für diese Menschen. Ich habe im Internet gelesen, dass viele aus Afghanistan kommen, natürlich auch aus Afrika. Was ist eigentlich falsch daran, zum einen einem Kriegsherd zu entkommen, zum anderen eine Möglichkeit zu suchen, auch wirtschaftlich eine Chance in diesem Leben zu bekommen? Wir hindern diese Leute daran, so zu leben, wie sie wollen. Etwas, das bei uns Grundgesetz ist, gestehen wir anderen nicht zu, bewachen eifersüchtig unsere Pfründe.
Ich entsinne mich einer Diskussion mit Nina, die für einen großen Konzern arbeitet. Wir sprachen über die Wohltaten, die diese Firma anderen ermöglicht, auch so vieles für die Menschen erreicht hat. Und natürlich über die Motivation dahinter, nämlich Geld zu verdienen. Es scheint wirklich so, die einzige Motivation, etwas zu erreichen, ist Gier. Ob als Individuum oder Konzern, es ist immer das Gleiche. Dabei gehört die Verknappung eines Gutes dazu, so wird der Preis bestimmt. Gibt man jedem Menschen einfachsten Zugang zu diesem Gut, verfällt der Preis. So ist es leider auch mit der Gesundheit, die heute sicher zu den lukrativsten Geschäftsfeldern gehört. Auch dieser Fortschritt, Menschenleben zu retten, geht in erster Linie auf Gier zurück.
Ich bin der Auffassung, dass etwas Gutes, in diesem Fall die Gesundheit der Menschen, niemals aus einer der schlimmsten Eigenschaften des Menschen hervorgehen kann. Gutes kann niemals aus Schlechtem entstehen, schon die antiken Philosophen wussten das, allen voran Sokrates, der sagte, dass es besser wäre, etwas Gutes tun zu wollen, das aus Versehen zu Schlechtem führt als umgekehrt. In unserer Gesellschaft scheint es leider immer der umgekehrte Fall zu sein. Ich bin mir sicher, dass es eines Tages eine andere Motivation als Gier geben muss, wenn wir uns auf eine höhere Stufe erheben wollen.
Wieder schweife ich ab, aber ich bin selten so mit der Realität am Rande unseres Kontinents in Berührung gekommen wie hier. Nicht einmal in Marokko habe ich diese Szenen beobachtet.
Gegen eins war ich endlich auf dem Boot, nachdem sich bei der Logistik des Beladens chaotische Szenen abspielten. LKWs, PKWs, Camper, mussten alle den Instruktionen einer Vielzahl von Fährpersonal folgen, die sich untereinander selten einig waren, wer wann auf die Fähre fahren durfte. An einem Punkt war ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt schaffen würde, dann aber befand ich mich auf einer steilen Rampe, die mich zu meinem Platz brachte. Ich hielt mich nicht lange auf, suchte die Toiletten und legte mich danach ins Bett. Campen an Bord stellt sich dann als schwierig heraus. Ich war zwar todmüde, aber auch aufgedreht. Die Maschinen arbeiteten durchgehend laut, das ganze Deck war von grellem künstlichem Licht erfüllt. Alles führte zu einem unangenehmen Schlaf.
Gegen acht wachte ich auf, hatte gewaltige Kopfschmerzen und fühle mich auch jetzt eher wie ausgespuckt als ausgeschlafen. Im Camper hielt ich es nicht mehr lange aus. Jetzt sitze ich hier, bin unausgeschlafen, selbst ein starker griechischer Café und eine Aspirin hat nicht viel geholfen.
Das Reisen ist eben anstrengend. Aber diese Erkenntnis ist nicht gerade neu. Überrascht mich aber immer wieder.