Cervarezza

Meine kleine Dehydration der letzten Tage hatte Folgen, denn die Schwäche, mit der ich aufstand, stand in keinem Verhältnis zu der Zeit, die ich im Bett verbracht hatte. Ein Liter Wasser am Morgen und eine Magnesium-Tablette verbesserten meinen Zustand erheblich.
Ich begann mit einer Schreibsession, denn ich möchte endlich mit meinem gotischen Roman in die Pötte kommen. Die Routine, die ich vor Ninas Besuch hatte, habe ich noch nicht wieder gewonnen, aber weit entfernt bin ich auch nicht, denn nur ein wenig mehr Planung des Tagesablaufs war notwendig, um heute mehr zu schaffen als sonst. Gegen Mittag entschied ich mich dann, nach erst einmal getaner Arbeit, eine kleine Wanderung zu unternehmen, um mir die bislang unbekannte Bergwelt hier zu erschließen. Zwei oder drei Stunden war das Ziel für den Anfang, denn ich war ja bereits eine Weile nicht mehr gelaufen. Meine Wahl stellte sich als eine gute Etappe heraus, direkt am Campingplatz begann sie. Durch die Tatsache, dass wir bereits sehr hoch liegen, wanderte ich recht ebenerdig und gerade, es ging anfangs einige Meter nach unten, später wieder nach oben, keine große Geschichte also. Auch die Wege waren sehr gut ausgeschildert und beinahe in zu gutem Zustand, breite Pisten, meist Schotter, abgewechselt durch Waldwege, die herrlichen Schatten boten. Da ich in der Mittagszeit losgegangen war, ein Umstand, der noch gestern undenkbar gewesen wäre, lief ich in der größten Hitze des Tages, was mir glücklicherweise keine Schwierigkeiten machte. Es mochten an die 25 Grad gewesen sein, für mich eine schöne Temperatur, bei der ich nicht friere.

Mein erstes Ziel war ein kleines Dorf Busana, nur wenige Kilometer entfernt von Cervarezza. Wie gesagt, es war ein leichter Spaziergang dorthin. Der Ort selbst scheint mir vom Tourismus völlig unberührt zu sein, wie auch die ganze Gegend. Auf dem Campingplatz bin ich wohl der einzige „Ausländer“, ansonsten machen viele Italiener hier Urlaub. Ich liebe es, denn es hat etwas Ursprüngliches. Dass diese Gegend auch auf keiner Karte zu finden ist, stellte ich heute Morgen fest, als ich den Rough Guide aufschlug. Nichts, nicht ein einziger Eintrag, Hunderte Kilometer Strecke einfach unerwähnt. Ich bin sehr dankbar dafür, denn es hat etwas für sich, vielleicht nicht der Erste zu sein, der ein Gebiet entdeckt, aber der Einzige in diesem Jahr, der es besucht. Abgesehen natürlich von den Italienern. Dabei ist es ein wundervolles Wandergebiet, weißt außerdem eine ganze Reihe von historischen Städten auf, von denen ich die eine oder andere allerdings noch entdecken muss. An Fivizzano bin ich gestern aus Unwissenheit bereits vorbei gefahren, es tut mir Leid, denn dank des ausgezeichneten Infomaterials des Campingplatzes ist es sicher ein interessanter historischer Ort. Damit muss ich jetzt leben.

In Busana hielt ich mich nicht sehr lange auf, in dem Ort ist nicht viel mehr als ein Geschäft und zwei Bars. Der Rückweg nach Cervarezza war hier ebenfalls gut ausgeschildert, auf und ab führte der Weg durch den Wald. Ich kam an einem kleinen Ort vorbei, dessen Namen ich vergessen habe. Es war wie erwartet kaum etwas los, aber an den Häusern erkannte ich, dass es ein sehr alter Ort sein musste, denn die waren sicher viele Hundert Jahre alt, rustikal aus Steinen gebaut, nicht restauriert, einige davon eingestürzt. Ich kann mir vorstellen, dass viele Orte in der Toskana oder in Umbrien lange Zeit genauso ausgesehen haben, bevor der Immobilien- und Touristenboom die Gebäude zwar gerettet, die Atmosphäre jedoch unwiederbringlich verändert hat. Hier konnte ich sehen, wie es einmal ausgesehen haben muss in Bella Italia.

Von hier war es nicht mehr weit zum Campingplatz. Wieder lief ich durch den Wald, kam an eine sehr matschige Stelle. Sie war recht breit, einen sicheren Übergang gab es nicht, alles war sehr nass und wie gesagt matschig. Also dachte ich mir, ich springe einfach drüber, mehr als zwei Meter würden es schon nicht sein. Waren es auch nicht. Früher war ich fünf Meter oder weiter gesprungen, dachte ich mir, zwei wären doch kein Problem. Aber es schien irgendwie anders, denn die Sprunggrube fehlte auf der anderen Seite und bergauf ging es ebenfalls. Der Anlauf von ca. drei Metern war kühn bemessen, wenn auch ein wenig naiv. Es kam, wie es kommen musste. Bereits beim Absprung wusste ich, dass ich es nicht hinüberschaffen würde, suchte fieberhaft nach einem geeigneten Landeplatz, den ich aus der Luft identifizierte. Er war nicht geeignet, ich versackte sicher zwei Fußbreit im Schlamm, stieß mich kräftig ab und landete wenigstens mit dem anderen Fuß im Trockenen. Das war vielleicht eine Sauerei, es knirschte überall, zudem war meine Sandale nun endgültig hinüber, denn die hing nur noch an zwei Fäden, so dass ich keinen festen Tritt mehr bekam. Trotz des kleinen Missgeschicks musste ich lachen, das gehört doch irgendwie dazu, oder? Ich watschelte eher als ich ging in den Ort hinein, wo ich in einem öffentlichen Brunnen meinen Fuß vom schlimmsten Schmutz befreite, was gar nicht leicht war, denn das Zeug klebte hartnäckig und selbst jetzt, nach einem Fußbad und einer Dusche sehe ich immer noch Reste des Zeugs an meinen Fußnägeln. Meine Sandalen, die ich bereits in Barcelona hatte wegschmeißen wollen, muss ich nun wirklich entsorgen. Zeit wird es auch.

Das war mein kleines Abenteuer heute, eigentlich nicht der Rede wert, aber immerhin.
Nachmittags schrieb ich noch an der Geschichte, die sich besser entwickelt, je tiefer ich in sie eindringe. Ich bin eben kein Langsam-Schreiber, sondern muss die Ideen, die ich habe, zu Papier bringen, sonst sind sie weg. Andere brauchen länger, doch das Resultat ist das gleiche. Jeder muss für sich seine Geschwindigkeit finden, ist eben so, beim Laufen wie beim Schreiben.

Heute Abend findet das vorletzte Spiel der WM statt. Ich werde das deutsche Team ehren und einen Ort finden, wo ich das Spiel sehen kann, denn ich finde es bewundernswert, was diese Truppe geschafft hat. Sie hat eine Nation begeistert und ihr nach vielen, vielen Jahren wieder etwas wie Stolz geschenkt, den Menschen anderer Nationen wie selbstverständlich empfinden. Wir aber haben dafür sehr lange gebraucht, der Fußball hat uns geholfen. Auch ist es nicht so wichtig, nicht das ganz große Ziel erreicht zu haben, denn das höchste Ziel ist doch viel wichtiger, nämlich aus 80 Millionen Menschen wieder eine Nation zu machen. Und das haben sie seit 2006, als sie damit angefangen haben, erreicht. Vielen Dank also, Herr Klinsmann und Herr Löw und alle anderen, die daran mitgewirkt haben. Ich drücke für das Spiel um Platz drei die Daumen.