Marseille

Nach vielen Tagen in der Provinz, kleinen Dörfern und kleinen Städten, waren wir heute in einer Großstadt. Für Marseille, die wir letztes Jahr ausgelassen hatten, standen wir früh auf, um den Bus nicht zu verpassen, der uns – auf abenteuerlicher Strecke durch einen zerklüfteten Nationalpark und Dutzenden von Serpentinen – sicher direkt ins Zentrum fuhr. Ich mochte die Stadt gleich vom ersten Augenblick an. Hier ist nichts so geleckt wie in den anderen provencalischen Orten, die Boutiquen bestehen hier eher aus Billig-Kleiderläden aller Art, auch wenn es natürlich die sonst üblichen chicen Geschäfte gibt. Die gesunde Mischung macht es.
Durch die Rue de Rome liefen wir auf den alten Hafen zu, voller Erwartung, was wir hier sehen könnten. Nach einigen Hundert Metern fanden wir ihn, nun, er ist auch schlecht zu übersehen. Tausende von Jachten und Booten lagen hier, ohne jedoch den Anschein von allzu viel Glamour zu erwecken. Die Promenade war gespickt mit Restaurants, die wir später auskundschaften sollten, denn die Herausforderung, eine Bouillabaisse zu finden, die Ninas Taschen nicht vollkommen entleeren sollte, stand uns noch bevor. Doch da es kaum 11 Uhr war, verschoben wir diese Suche auf später.

Stattdessen schauten wir uns das Panier an, das alte Marseille, auf dem schon die Griechen vor mehr als 2000 Jahren siedelten und Massilia gegründet hatten. Heute ist es in Teilen immer noch mittelalterlich und strahlt ein wenig den Charme des Fischerviertels aus vergangenen Jahrhunderten aus. Abgesehen von den vielen neumodischen Gebäuden aus den 20ern oder 30ern, doch man kann noch die authentischen Ecken und Plätze finden, die viel Ambiente aufweisen. Es bröckelt auch alles ein wenig, der Putz ist nicht der Neuste, also etwas, was ich als Patina bezeichnen würde und was ein Ort unbedingt aufweisen muss, möchte er mir gefallen.
Nach einigem Herumspazieren und dem Ignorieren der Kathedrale, die wir einfach nicht gefunden haben – ohne Stadtplan wohlgemerkt – machten wir uns auf den Weg zu den vielen Restaurants. Und unsere Suche war rasch beendet, denn die Restaurants sind nicht nur zahlreich, sondern haben alle Kampfpreise, mit denen sie sich versuchen zu unterbieten. Wir bestellten, Nina ihre heiß ersehnte Bouillabaisse, ich eine Platte mit frittierten Sardinen. Die Portionen, die wir bekamen, waren so riesig, dass es uns bereits beim Ansehen schwindelte. Also hauten wir rein, so gut wir konnten. Nina bemühte sich, die Fische in ihrer duftenden Suppe möglichst grätenfrei zu essen, ein aussichtsloser Versuch, denn sobald sie die Meerestiere auch nur ansatzweise berührte, zerfielen diese in ihre Einzelteile. Wir rätselten, wie man es schafft, Fische, die in einer Suppe schwimmen zu filetieren, doch eine geeignete Technik wollte uns nicht einfallen. Trotzdem machte sie das Beste daraus, es schmeckte auch herrlich intensiv. Allein die Suppe ohne Einlage ist bereits eine beachtliche Köstlichkeit, die ich bei Gelegenheit einmal kochen muss. Es war auch ein erhebendes Gefühl, in Marseille am Hafen zu sitzen und zu schlemmen, wir genossen es in vollen Zügen.

Der trockene, eiskalte Weißwein hatte uns etwas schläfrig gemacht, so dass es nicht einfach war, unseren Erkundungsgang durch die Stadt fortzusetzen. Wir beschlossen, auf den höchsten sichtbaren Punkt in der Stadt zu steigen, die Kathedrale Notre Dame, die hoch oben über dem Hafen thront. Als wir auf der anderen Seite des Hafenbeckens ankamen, stellten wir fest, dass uns diese Gegend aus irgendeinem Grund wesentlich besser gefiel. Vielleicht weil die Architektur, sicher aus dem 18 oder 19. Jahrhundert, einheitlicher und somit charmanter ist. Breite Straßen und riesige Plätze schafften Raum in der sonst recht engen Stadt. Vielleicht wäre es besser gewesen, hier essen zu gehen, aber diese Entscheidung war nun bereits getroffen. Wir wanderten also auf die Kirche zu, die weiter entfernt lag, als wir eigentlich vermutet hatten. Ein steiler Hügel wurde fast zu viel für unsere schweren Weißweinköpfe und gummiartigen Muskeln. Stück für Stück schoben wir uns langsam nach oben, wobei die Straße immer steiler zu werden schien.
Auch die Amerikaner hinter uns waren nicht schneller als wir, vielleicht litten sie auch unter den Auswirkungen des Alkohols. Schon im letzten Drittel wurden wir für die Anstrengung belohnt, die Aussicht auf die Stadt und Umgebung war herrlich und versprach noch besser zu werden. Erst jedoch mussten wir einige Treppen emporsteigen, die letzte Anstrengung, bevor wir es geschafft hatten. Oben hatten wir die Möglichkeit zu verschnaufen, aber bald begannen wir, den Blick auf die Stadt zu genießen. Marseille liegt eingekesselt zwischen mehreren Bergmassiven, an denen sie sich empor schmiegt. In der Ferne sahen wir auf scheinbar nacktem Fels hohe Wohnsiedlungen, die dort partout nicht hinpassen wollten. Wahrscheinlich haben die Menschen in diesen (wahrscheinlich) Sozialbauwohnungen die herrlichsten Aussichten. Vielleicht aber sind diese Appartements inzwischen bei Gutbetuchten begehrt, wie in London, aber es scheint nicht so. Überhaupt scheint mir Marseille überhaupt nicht am Boom der restlichen Küste östlich der Stadt teilzuhaben. Die sonst üblichen, grauenhaften „Entwicklungen“ an den Hängen fehlen, auch in der Stadt waren wir als Touristen definitiv in der Unterzahl. Vielleicht war es das, was mir die Stadt so sympathisch gemacht hat, denn sie wirkt nicht aufgetakelt, sondern authentisch.

Wir gingen auch in die Kirche hinein, doch hier war es sehr voll, viele Gläubige steckten Kerzen an, die zu Hunderten brannten. Der ganze Komplex erinnerte mich stark an Sacre-Coeur in Paris. Hier jedoch thront eine vergoldete Madonnen-Statue auf dem Kirchturm. Irgendwo steht ein Schild mit einigen Daten zu diesem Prachtstück, das einzige, was ich mir gemerkt habe, ist, dass das Handgelenk des Jesus-Kindes einen Durchmesser von 1,5 Metern hat. Von unten sieht es so klein aus, kaum zu glauben. Man kann um den ganzen Komplex herum gehen, so dass wir in alle Richtungen schauen konnten. Ich verstand sehr gut, warum die Griechen entschieden haben, sich damals hier niederzulassen. Viel Schutz durch Berge und vorgelagerte Inseln und immer Sonnenschein. Fast immer zumindest.

Wir merkten, dass uns langsam die Kraft ausging, zwar waren wir unseren Schwips los, der allerdings nur abgelöst wurde durch trunkene Müdigkeit, die kaum zu überwinden ist. Also liefen wir den Hügel wieder hinunter, Nina fand noch Energie zum Shoppen, keine Ahnung, wo Frauen diese immer wieder hernehmen, wenn es um Kleidung oder Handtaschen geht, dann nahmen wir den Bus zurück nach Cassis, der uns direkt vor dem Campingplatz absetzte.
Ich bin sicher, dass man für Marseille eigentlich an die drei Tage braucht, um die Stadt ansatzweise zu begreifen. Fürs Erste soll es jedoch genügen. Für morgen ist Sturm angesagt, der Mistral soll heftig wehen. Kaum hört es auf zu Regnen, setzt Wind ein. Wenigstens scheint die Sonne.
Man kann schließlich nicht alles haben.