Selinunt

Heute kam ich mir wegen meiner gestrigen Jammerei ziemlich dämlich vor. Nach einem sprunghaften Start, will heißen einem frühen Aufbruch, erreichte ich die Ausgrabungsstätte Selinunte. Nachdem ich an den griechischen Tempeln in Agregento so entschlossen vorbeigefahren war, musste ich wenigstens eine dieser Stätten sehen, um den hellenischen Kolonialismus in der Antike zumindest etwas Tribut zu zollen. Es war ein herrlicher Tag, etwas windig, doch die Sonne schien. In der Ferne waren einige weiße Wolken zu sehen, ansonsten überwog das tiefe Blau des Himmels. Es war so angenehm, dass mich die neun Euro Eintrittsgebühr kaum noch störten. Ich erfuhr sogar, dass ich mit dem gleichen Ticket auch die Stätten in Segesta besuchen könnte, was ich nicht sofort ablehnte. Warum auch.

Meine Tour begann an einem neu aufgestellten dorischen Tempel, der gänzlich aus den überall herumliegenden Ruinen zusammengesetzt ist. Ich hatte fast vergessen, wie wuchtig und männlich diese Tempel sind, wenn sie so beinahe perfekt vor einem stehen. Inmitten einer Wiese, überall gelbe Blumen, dazu dieses Winterwetter, das kaum diesen Namen verdient, so schön malerisch-kitschig war es. Das gesamte Bild. Ich studierte die Säulenordnung, ach was, ich bewunderte das Bauwerk einfach nur. Man muss nicht immer Worte für etwas finden, aber das hier ist ein Zeugnis der griechischen Hochkultur, das nur selten zu finden ist. Außer natürlich in Sizilien oder allgemein in Süditalien. Aber dieser Tempel reicht beinahe an die in Paestum heran. Auch wenn seine Brüder noch wild durcheinandergewürfelt daneben liegen. So ist es. Es sieht aus wie ein achtlos ausgeschütteter Baukasten. Überall liegen Steine, Quader, Säulen, Kapitelle oder Basen. Dieser Tempel neben dem aufgebauten muss noch größer gewesen sein. Allein eine Basis einer Säule maß mehrere Meter im Durchmesser. Diese Geröllhalde ist frei zugänglich, also kraxelte ich umher, nicht ganz ungefährlich, aber wundervoll. Herr über ein Meer aus Steinen. Manche Säulen standen noch und es ist unschwer zu erkennen, dass der Tempel nie ganz fertig gewesen ist. Den Säulen fehlen die Furchen, die anscheinend erst eingemeißelt wurden, wenn sie bereits standen.

Das ist aber noch nicht alles. Ich befürchtete schon, dass meine Euronen schlecht angelegt gewesen waren, auch wenn bereits die beiden Tempel einiges wert gewesen wären. Nein, eine ganze Stadt galt es noch zu entdecken. In der Ferne sah ich eine weitere Tempelruine, bei näherem Hinsehen entdeckte ich auch die gewaltigen Reste einer Stadtmauer. Dazwischen lag ein sanftes Tal und ich bewunderte nicht nur die Bauwerke, sondern auch die sizilianische Landschaft, die hier sehr lieblich, beinahe schon toskanisch, aussieht. Ich lief also in Richtung Ruinen-Stadt und brachte es fertig, mich zu verlaufen. Andererseits sind auch keine Schilder zu sehen und eine Karte von dem Gebiet ist trotz des üppigen Eintrittspreises auch nicht dabei. Jedenfalls stand ich, nachdem ich einem breiten Trampelpfad gefolgt war, im Nirgendwo. Erst als ich eine Teerstraße entdeckt hatte, auf denen Golfbuggys fußfaule Touristen von den Tempeln zur Stadt brachten, wusste ich, dass ich richtig war.

Von der Stadt selbst ist kaum etwas außer den Grundmauern übrig. Ein ehemaliger Wachturm aus dem 16. Jahrhundert, der komplett aus den Bruchsteinen der ehemaligen Stadt gebaut ist, beherbergt ein kleines Museum. Es muss früher recht gefährlich gewesen sein, die ganze sizilianische Küste ist mit diesen Türmen gespickt. Kein Wunder, Sizilien war damals in spanischer Hand, während englische, französische und holländische Freibeuter auf Wunsch der jeweiligen Kronen gerne plünderten. Von einem kleinen Garten, der recht verfallen ist, hat man einen großartigen Blick auf die Küste, den Strand und die entfernten Städte Siziliens. Es ist jedenfalls eine dramatische Aussicht, allerdings spielte das Wetter mit, denn die See war aufgewühlt, der Himmel aber klar. Auch denke ich, dass ich Glück habe, Selinunte an diesem Dezembertag zu sehen, denn kaum jemand war unterwegs. In der Hochsaison ist es sicher kaum zum Aushalten.

Ich lief durch die verfallene Stadt hindurch, überall herrschte Wildwuchs. Die Natur lässt sich nicht in Zaum halten. Am Ende der Hauptstraße kam ich an ein antikes Wehrgebäude, das auch in ruinösem Zustand noch beeindruckend war. Es waren nicht die Griechen, die es gebaut haben, ich glaube die Karthager, die Selinunte im Jahr 409 v. Chr. eroberten. Sie haben dieses Wehrgebäude komplett aus alten Tempeln und anderen Gebäuden der griechischen Stadt erbaut. Man sieht halbierte dorische Säulen, die als Balken gedient haben. Sie sind bei dem Tor extra ausgestellt. Faszinierend, dass auch schon damals nichts vor dem Wiederverwerten sicher war.
Ich durchsuchte die Gegend noch ein wenig, fand noch ein Feld mit mehreren Ausgrabungsgräben, die aber anscheinend schon eine ganze Weile nicht bearbeitet wurden. Die Abdeckplanen jedenfalls sind bereits vom Wind zerfetzt, das Gras und andere Pflanzen haben die Kuhlen zurückerobert. In der Ferne, in einem weiteren Tal, sah ich noch Ruinen, doch der Weg dorthin schien mir zu weit für weitere Grundmauern. Allerdings war es vielleicht ein Fehler, denn die recht guten Hinweisschilder lassen die Ruinen anschaulich lebendig werden. Zumindest etwas.

Ich hatte hier einige Stunden zugebracht, es war bereits beinahe zwei, so dass ich langsam daran dachte weiterzufahren. Mein Weg führte mich vorbei an Castellmare, ich musste dazu durch sehr ländliche Gebiete, das erste Mal in Sizilien. Es ist eine raue, bergige, wild-romantische Landschaft, die ihren eigenen Charme hat. Eines Tages werde ich sie erkunden, vielleicht zu Fuß, was sicher das Beste wäre. Aber nicht heute.
Mein Ziel war Capo San Vito, wo ich das neue Jahr begrüßen werde. Es liegt zwischen beeindruckenden Bergen, schroffen Felsen, die in der Abendsonne rot leuchteten. Ich hatte noch genug Zeit vor dem Dunkel werden, um noch einmal durch den Ort zu laufen, ein berühmtes Ressort. Jetzt war es recht verlassen, wenn auch nicht ganz einsam. Einige Menschen spazierten am breiten Strand entlang, einige in der Stadt. Ich entdeckte eine alte Kirche, die mich mehr an eine Festung erinnerte. Aber das ist kein Widerspruch, manchmal war es eben ein und dasselbe Gebäude, das für weltlichen und himmlischen Schutz sorgen musste.

2010 werde ich jetzt nicht Revue passieren lassen, ich denke nicht, dass es eine Zeit in meinem Leben gab, die besser dokumentiert ist als diese. Um auf mein Gejammer von gestern zurückzukommen, ich fühlte heute, dass ich ein ganz besonderer Glückspilz bin. Wer kann schon eine solche Reise wie ich machen? Ich habe in den letzten Monaten mehr gesehen, als viele in ihrem ganzen Leben sehen werden. Manchmal verliere ich das aus den Augen. Sollte ich aber nicht. Heute jedenfalls feiere ich allein. Nina fehlt mir. An Sylvester haben wir meist wesentlich mehr Spaß als an Weihnachten. Ich habe es nicht auf die Reihe bekommen, es zu organisieren, ich denke, es wäre möglich gewesen. Also habe ich es nicht anders verdient, ich verbringe den letzten Tag des Jahres allein. Wenn ich recht nachdenke, ist es nur gerecht, denn es ist eben so, wie ich den größten Teil des Jahres verbracht habe. Ich habe es selten als Last empfunden, aber manchmal gibt es Momente, in denen es etwas schwierig ist. Das ist so einer. Trotzdem mache ich das Beste daraus. Ein Glas Prosecco habe ich schon intus, ich bin schon recht beschwipst. Ich habe mir eine fleischliche Spezialität gegönnt, die ich gleich kochen werde, auch wenn ich nicht weiß, was es ist.
Vorsätze für das neue Jahr habe ich auch nicht, ich werde auf dem aufbauen, was ich mir erarbeitet habe. 2011 wird sicher nicht ganz leicht. Aber ich bin nicht der Mensch, der sich durch schwierige Aufgaben einschüchtern lässt. Packen wir es an. Besser jetzt gleich.