Bei Silifke

Und natürlich war das rechte Ohr heute Morgen wieder dicht. Nach einigem Warten jedoch befreite es sich und ich konnte wieder hören, doch wusste ich, dass die Geschichte noch nicht vorbei war.
Und ich bin auch heute wieder geblieben. Mit dem feinen Unterschied allerdings, dass ich nicht einmal die leisesten Zweifel daran hatte, dass es nicht so sein sollte. Wie selbstverständlich setzte ich mich – heute etwas später – wieder vor den Laptop und überarbeitete die Exposés der anderen Romane. Es dauerte nicht lang, denn ich mochte sie immer noch. Nachdem ich das erledigt hatte, machte ich mich endlich an das Exposé der gotischen Novelle. Und scheiterte grandios. Ich weiß nicht, wie fasst man ein Buch zusammen, das um die 450 Seiten hat und dessen Geschichte rasant und kurzweilig von einem zum nächsten Schritt führt? Mehrfach fing ich an, brauchte drei Stunden, hatte am Ende einen Text, den selbst ich langweilig fand. Auch ein Titel erschloss sich mir nicht, immer wieder überlegte ich, doch es fiel mir nichts ein. Statt mich zu ärgern, beschloss ich, es nicht zu übertreiben. Manchmal kommen die Einfälle etwas später, kein Grund zur Panik also. Ich habe ein halbes Jahr geschrieben, da kann ich mir auch ruhig die Zeit nehmen, ein schönes Exposé zu schreiben, das letztlich der Marketing-Text ist und somit stimmen muss. Nichts ist so wichtig, denn es ist der erste Eindruck, den ein Lektor – oder der Leser – von meinem Buch bekommt. Somit kann ich mich nicht mit Halbheiten zufriedengeben.

Ansonsten ist nicht viel geschehen. Ich machte eine kurze Radtour in den Ort nebenan, weil mir langsam die Lebensmittel ausgehen. Dabei kam ich ins Grübeln. Warum bleibe ich so lange hier? Mir fiel spontan Hamlet ein. Und Herman Hesses „Stufen“. Ersteres ging tiefer, denn ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht nach Syrien gefahren bin.

„Nur das die Furcht vor etwas nach dem Tod, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt, dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten flieh’n. So wird die Farbe der Entschließung des Gedankens Blässe angekränkelt und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung Namen.“
Ich hoffe, ich zitierte richtig. In jedem Fall dachte ich darüber nach, ob es Angst ist, die mich von meiner Unternehmung abhält. Ertrage ich deshalb das „Übel“, lieber bei Wärme und Nichtstun in der Süd-Türkei zu verweilen? Das unbekannte Land. Oder besser die Länder, Syrien, Jordanien und Ägypten warten dort, wenige Hundert Kilometer weiter. Ich ging in mich. Aber ich fand diese Angst nicht. Mein Entschluss umzukehren rührt von woanders her. Es sind wahrhaftig praktische Überlegungen. Dabei bin ich hoch motiviert, diese Länder irgendwann ebenfalls zu bereisen, dann aber ohne den Ballast des Campers. Ich muss gestehen, dass ich, nachdem ich diese Erkenntnis hatte, aufatmete. Ich bin froh, diesen Beschluss nicht aus Angst getroffen zu haben, denn das hätte geheißen, dass ich auf meiner Reise immer noch in den Denkschemen derer gesteckt hätte, die ich immer wegen ihrer Furcht verlacht habe. Heute tue ich es natürlich nicht mehr, denn ich kenne meine eigenen Ängste und gehe einfach nur anders damit um. Dennoch, aus Angst zu zögern und umzudrehen wäre eine Bankrott-Erklärung an mich selbst gewesen. Nein, diese Länder warten auf mich. Sie taten es jahrhundertelang, jetzt können sie auch noch einige Zeit warten. Ich kann es inzwischen auch, denn ich habe in den letzten Monaten Geduld gelernt. Zumindest etwas.

Hesses Gedicht „Stufen“ geht für mich heute nicht so tief. Es lehrte mich heute eher, dass ich die Rückfahrt scheue. Ich habe nachgeschaut. Es sind 1500 Kilometer (!), nur um aus der Türkei herauszukommen. Wir reden nicht von Autobahnstrecken, sondern von bergigen Landstraßen, somit hätte ich mindestens drei Tage am Stück vor mir. Letztlich ist es nicht so schlimm, denn ich werde Möglichkeiten finden, die Fahrt zu genießen. Dennoch, „es droht erschlaffen“, wenn ich mich nicht bald aufmache.
Aber es ist so schön warm und ich bin so schwach. Morgen werde ich wieder überlegen, ob ich am nächsten Tag aufbrechen sollte. Unheimlich ist mir das. Denn eigentlich ist dieser Platz wundervoll. Er ist schön und fasziniert mich einfach, denn wo in Europa – ich zähle die Türkei einfach mal mit dazu – kann man schon Mitte November in der Sonne liegen? Oder abends vor dem Camper einen Wein trinken? Ich wiederhole mich. Was allerdings nur zeigt, dass es mich beschäftigt.
Übrigens kam das Problem mit dem verstopften Ohr wieder zurück. Plötzlich war alles so leise, nachdem ich Wattestäbchen benutzt hatte. Nach einer Stunde Spülung in der Dusche ging es wieder. Ich traue dem Frieden noch nicht. Wir werden sehen.
So also vergeht ein weiterer Tag hier, beinahe im Müßiggang. Manchmal ist das auch schön.