Wanderung nach Génat

Es sollte eigentlich ein ruhiger Tag werden.
Wurde er aber nicht, weil ich mich spontan anders entschied.
Vielleicht war es das ältere holländische Ehepaar, das an meinem Zelt vorbeilief, eindeutig in Wanderlaune. In jedem Fall wurden meine Sinne geweckt, anstatt mich zu rekeln und zu strecken, um danach den Pool aufzusuchen, machte ich mich bereit zum Aufbruch. Das geschah alles spontan, ohne dass ich meine, Einfluss gehabt zu haben. In jedem Fall war ich sehr verwundert, dass ich plötzlich, an meinem ruhigen Tag, mit Stock, Rucksack und schweren Schuhen unterwegs war. Beinahe wie auf Schienen ging es voran, lange schon hatte ich mich in mein Schicksal ergeben.
Es gibt nicht viele Touren von hier aus. Die Naheliegende wählte ich, wahrscheinlich bereits vor einigen Tagen. Erst musste ich in die Stadt, an der Touristeninformation vorbei, dann zum Super U, den ich rechts liegen ließ, nach Quie. Hier entdeckte ich als erstes den gelben Balken, der mich auf der Wanderung nach Génat begleiten sollte. Nur hier verlief ich mich ein wenig, denn nicht immer sind die Balken zuverlässig angebracht. Bald aber befand ich mich in Waldnähe, bereit für den Aufstieg.
Und der hat es hier wirklich in sich.
Es ist dieser Weg nach oben, steil und rutschig, so dass man binnen Sekunden außer Atem ist. Ich jedenfalls war es. Schon hier brannten meine Oberschenkel das erste Mal und ich fragte mich, warum ich mir das an einem ruhigen Tag antat. Hinzu kam noch, dass es der wahrscheinlich heißeste Tag auf meiner Reise war. Selbst der kühlende Schatten der Bäume wollte nur halbherzig wirken. Aber es war angenehm, trotz der Anstrengung hatte ich das Gefühl, etwas Außerordentliches zu tun.
Völlig außer Atmen kam ich oben an. Das ist eines der Phänomene, wenn man hier erst einmal oben ist, geht es beinahe geruhsam weiter. Hatte ich für nur einen Kilometer sicher mindestens eine halbe Stunde gebraucht, benötigte ich für die nächsten beiden nicht einmal halb so viel. Oder so ähnlich. Vorbei ging es an blühenden Wiesen und einigen schroffen Felsen, die Landschaft hier oben aber würde ich als lieblich bezeichnen. Überall summte es, Bienen und Hummeln hatten zu tun, kein Wunder bei der Blumenpracht. Da würde ich auch schwelgen.
Lange dauerte es nicht, dann erreichte ich Génat. An der kleinen Kirche machte ich Pause, ruhte mich etwas im Schatten aus.
Nun musste ich überlegen, denn es war noch nicht einmal halb eins. Ich hätte zurückgehen können, denn mein Ziel hatte ich erreicht. Aber es war noch so früh und irgendwie schwante mir, dass ich noch nicht einmal richtig begonnen hatte.
Lange überlegte ich nicht. Ich fand einen Wanderweg, der mich weiter nach oben führen würde. Wie schwer konnte es sein, nochmal dreihundert Höhenmeter zu überwinden?
Es wurde zu einer echten Herausforderung.
Erst musste ich ein Stück hinunterlaufen, dann ging es nach oben, erst sanft, später etwas steiler. Das führte dazu, dass ich die Strecke nie wirklich als solche wahrnahm. Anscheinend muss es wirklich halsbrecherisch sein, um von mir bemerkt zu werden. Trotzdem ist es nicht weniger anstrengend.
Die Wanderwege sind manchmal etwas auslassend ausgezeichnet, so dass ich einen recht wichtigen Abzweig verpasste, der wirklich nicht gekennzeichnet ist. In jedem Fall endete der Weg plötzlich, auf dem ich mich befand.
Auch hier meldete sich mein innerer Schweinehund. Der wollte umkehren und sich einen faulen Lenz machen.

Das ging nicht. Viel zu oft gewinnt er die Oberhand. Damit muss Schluss sein.
Also lief ich zurück, nahm einfach den ersten Abzweig nach oben, dem ich begegnete. Nur wenige Meter entfernt sah ich wieder den gelben Balken. Mein Schweinehund war zum Schweigen gebracht, ich hatte mich durchgesetzt.
Irgendwann lichtete sich der Wald, die Baumgrenze war erreicht, wahrscheinlich liegt sie bei ca. 1200 Metern. Hier trafen sich einige Wanderwege. Nicht weit entfernt, aber zu weit für mich, sah ich Schnee. Das hat nichts mit Faulheit zu tun, aber mit einem gesunden Selbstverständnis. Das hätte ich an diesem Tag nicht fertiggebracht. Man muss seine Kräfte richtig einschätzen.
Trotzdem lief ich noch auf einen der Gipfel hinauf, ohne dass es einen Weg dorthin gab. Die beiden Schäfer, die ich an der Wegesgabel getroffen hatte, sahen nicht hin, zumindest dachte ich es. In jedem Fall eröffnete sich ein Anblick, für den sich jede Anstrengung lohnt. Schneebedeckte Gipfel in der Ferne. Ein ganzes Massiv tauchte auf, Pics, die viel höher sind als der Ort, an dem ich stand. Als kleine Anekdote: In diesem Augenblick rief mein Patenonkel aus Berlin an und wünschte mir ein schönes Pfingstfest. Es ist manchmal wundervoll, seine Empfindungen in solch großartigen Augenblicken zu teilen. Wahrscheinlich ist so eine Begeisterung ansteckend, denn mein Onkel war kurze Zeit später auch völlig aus dem Häuschen.
Dann begann der Abstieg.
Erst holte ich mir einen kleinen Rüffel von den Schäfern, die meinen Ausflug fernab der Wanderwege bemerkt hatten. Mir war es aber egal. Manchmal muss man sich über Grenzen hinweg setzen.
Spätestens jetzt bemerkte ich jedoch meine Müdigkeit. Es war ein weiter Weg, bereits lange nach drei. Und ich bewegte mich nicht mehr so elegant wie noch am Anfang des Weges. Auch mein Wasservorrat ging zur Neige, so dass ich mich ein wenig quälen musste.
Zum Glück verlaufen Abstiege weniger anstrengend, auch wenn sie nicht zu unterschätzen sind. In jedem Fall war ich, als ich Génat wieder erreichte, ziemlich am Ende meiner Kräfte. Eine kleine Pause half, wenn auch nicht viel. Trotzdem, ich musste weiter.
Dabei bewegte ich mich immer langsamer, doch die Strecke, die ich noch zurückzulegen hatte, schmolz recht schnell. Gegen halb fünf hatte ich den Abstieg in Richtung Tarascon erreicht. Hier erst wurde mir bewusst, wie steil es ist. An manchen Stellen wollten meine Füße am liebsten rennen, was natürlich aufgrund des Terrains nicht geht.
Völlig außer Atem sah ich auf das Tal, das wirklich sehenswert ist. Aber es schien noch so weit weg.
Doch Schritt für Schritt, Meter für Meter, kam ich dem Ziel näher, in diesem Fall dem Super U, der Wasser und Kühle versprach. Ich glaube, ich habe mich noch nie so lange in einem kleinen Supermarkt aufgehalten.
Der letzte Kilometer auf Asphalt war der Schlimmste. Ich kroch förmlich dem Campingplatz entgegen, meine Kleidung klebte an mir, es war stickig und ich wollte einfach nur ein wenig Erfrischung.
Was eine Tasse Espresso alles bewirken kann.
Denn die gönnte ich mir, als ich den Platz erreicht hatte. Ich ließ mich in einen Stuhl fallen, widerstand dem Drang nach einem Ricard, der mir den Rest gegeben hätte und wählte stattdessen mein Lieblingsgetränk, das mich noch nie im Stich gelassen hat.
Den Abend verbrachte ich dann vor dem Zelt, es war warm und angenehm. Eine Dusche hatte mich wieder zum Menschen werden zu lassen und auch wenn ich Muskelkater hatte, war ich glücklich. Es müssen nicht immer die gewaltigsten Attraktionen sein, um mich zufriedenzustellen. Auch das Erreichen persönlicher Grenzen gehört dazu. Aber vielleicht ist das ja dasselbe.
Wer weiß das schon so genau?