Wanderung zum Muttekopfhaus

Und wieder sind zwei Tage vergangen. Vorgestern war es noch grau und kalt, so dass ich mit Regenjacke und Handschuhen wandern gegangen bin. Doch gestern änderte sich das Bild. Das Wetter ist hier also wie die Launen einer Frau. Daher brauchte ich statt Regenjacke Sonnencreme, denn nicht die kleinste Wolke war am Himmel zu sehen. Auch war ich durch die zwangsweise Untätigkeit der letzten Tage ausgeruht, so dass ich etwas angehen konnte, das herausfordernder war als die bisherigen Wanderungen. Auf den Tschirgant traute ich mich nicht, weil die Gipfel allesamt noch schneebedeckt waren, doch das Muttekopfhaus auf ungefähr 2000 Metern versprach ein gutes Ziel, das ich vielleicht noch bewältigen konnte. Das Schöne an dieser Wanderung war, dass ich jederzeit das Ziel abändern konnte, falls ich es körperlich nicht schaffen würde. Zwei weitere Almen lagen auf dem Weg, die Untermarkter Alm und die Latschenhütte. Wieder führte mich mein Weg nach Hoch Imst, wo ich am Tag vorher schon gewesen war. Da die Seilbahn und die Alpinrutsche nur von Donnerstag bis Sonntag in Betrieb sind, war die Gegend nicht besonders gut besucht. Nach einer kurzen Pause also begann ich den Anstieg, der mich entlang eines breiten Pfades nach oben führte. Diese Wege sind durchaus von Autos befahren, so dass ich ab und zu ausweichen musste. Auch die Almen möchten versorgt werden. Der Anstieg war recht sanft, so dass ich mein erstes Etappenziel zügig erreichte. Die Untermarkter Alm war genauso geschlossen wie die Seilbahn. Aber da es gerade einmal Mittag war, brauchte ich noch keine größere Pause. Der Weg jetzt wurde noch einsamer, da die meisten Mit-Wanderer nicht weiterlaufen wollten. Die Einsamkeit wurde durch ein immer spektakulärer werdendes Bergpanorama belohnt. Die Gipfel, meist noch mit Schnee bedeckt, stachen aus dem blauen Himmel heraus, das Licht war klar und kantig, ich genoss den etwas anstrengenden Weg, der mich zur Latschenhütte brachte. Hier gönnte ich mir eine Cola und kontemplierte, ob ich weiterlaufen sollte. Zwar war es nicht zu spät für einen weiteren Aufstieg, aber ich spürte meine Beine, die wesentlich schwerer waren als noch vor zwei Stunden. Und der Weg zur Muttekopfhütte versprach eine interessante und anspruchsvolle Wanderung zu werden. Ich setzte mich gegen den ziemlich starken Faulpelz in mir durch. So hoch komme ich ja nicht alle Tage, da kann ich schon einmal etwas riskieren. Also wagte ich es und begann den Pfad, der nun immer schmaler wurde. Der Fluss, der mich von da an begleitete, war durch die Schmelze angeschwollen. Mittlerweile mochten es gute 20 Grad gewesen sein, doch noch immer fand ich am Wegesrand Reste des Schnees. Klettern musste ich zwar nicht, doch war ich froh, dieses Mal richtige Wanderschuhe getragen zu haben. Sandalen wären hier wirklich unangebracht gewesen. Auch bin ich auf die Hightech-Stöcke umgestiegen, die ich nicht mehr missen möchte. Sie scheinen einen Teil der Geharbeit mitzumachen, was regelmäßig zu Muskelkater im Schulterbereich führt.
Die Schmelze war so groß, dass der steinige Weg in großen Teilen überschwemmt war. Sturzbäche kamen mir entgegen, so dass ich vorsichtig sein musste, wo ich meine Füße hinsetzte. Trotzdem war es eine helle Freude, denn die Belohnung beim Wandern, die malerische Aussicht, wurde immer fantastischer. Das Muttekopfhaus hatte ich immer vor Augen, ebenso wie ein spektakulärer Wasserfall, den ich schon von Weitem rauschen hörte. Ich war mittlerweile ganz schön außer Puste, aber das Ziel kam näher.
Dann war ich da.
Es ist nur eine kleine Hütte, doch ich habe sie ganz allein erwandert. Allerdings war ich doch überrascht, so viele Menschen hier oben zu treffen. Keine Ahnung, wie die dahin gekommen waren. Denn begegnet war ich niemandem. Wahrscheinlich waren sie alle noch früher als ich aufgebrochen und genossen den gleißenden Sonnenschein und das wundervolle Panoramabild.
Ich stellte erneut fest, dass ich zwar in der Lage bin, etwas für mich Anspruchsvolles zu erreichen. Doch das lange Verweilen auf diesen Lorbeeren ist mir nicht vergönnt. Ich trank einen Kaffee, doch die Sonne war für meine helle Haut viel zu intensiv. Trotz Sonnenschutzfaktor 50 war ich schon verbrannt und musste somit in den Schatten. Also begann ich den Abstieg über den gleichen Weg. Natürlich nicht ohne sehnsuchtsvoll zum Muttekopfgipfel hinaufzuschauen. Der liegt noch einmal zwei Stunden entfernt, auf fast 2800 Metern. Das wäre wirklich ein Rekord, so hoch habe ich es noch nie im Leben geschafft. Aber für diesen Tag wäre es zu viel gewesen. Meine Beine waren schon schwer genug.

Der Abstieg ging natürlich schneller vonstatten. Rasch erreichte ich die Latschenhütte, bald auch die Untermarkter Alm, von wo aus ich die Sesselbahn entlang marschierte. Immer den Kuhfladen ausweichend. Auf dieser Strecke muss ich mich irgendwo verlaufen haben, denn plötzlich stand ich mitten in einer Kuhherde. Da ich von der Ferne aus nie genau weiß, ob es sich um friedliche Kühe oder um ziemlich wilde Jungstiere handelt, war ich vorsichtig. Nachdem ich einmal von Zweiteren aus einem englischen Feld gejagt worden bin, weiß ich, dass so etwas nicht ungefährlich ist. Doch es handelte sich um die weibliche Variante. Die Viecher glotzten mich blöd an, als ich an ihnen vorbeiwanderte.
Als ich in Hoch Imst ankam, war ich körperlich beinahe am Ende. Nur eine intensive viertelstündige Pause rettete mich, bevor ich mich durch die Rosengartenschlucht auf die letzte Etappe begab. Ich kämpfte auch mit der Versuchung, in den Bus zu steigen, doch das hielt ich für Schummel. So also schleppte ich mich die letzten Kilometer, kam in der Stadt an und hatte nun wirklich Schmerzen. Die habe ich übrigens heute noch, also einen Tag später. Aber das ist alles halb so wild, denn ich hatte den wundervollsten Wandertag meines Lebens. Es ist auch schön, so langsam diese Bergwelt zu verstehen. Ich kann schon einige Gipfel benennen, die ich von hier unten sehen kann.
Heute hingegen ließ ich es ruhig angehen. Ohnehin schaffe ich es nicht, an zwei Tagen hintereinander solche Touren zu machen. Zumindest noch nicht. Ich beließ es also bei einem Spaziergang nach Imsterberg, war also nur ungefähr zwei Stunden unterwegs. Auch stand am Vormittag ein Putztag an, die Regentage hinterlassen komischerweise immer ein großartiges Chaos innen. Auch um das Äußere des Campers kümmerte ich mich, nach ungefähr zwei Jahren wusch ich ihn einmal wieder. Er sieht jetzt zwar nicht unbedingt aus wie neu, aber immerhin ist er nicht mehr ganz so dreckig. Muss ja auch mal sein.
Morgen werde ich Österreich wieder verlassen. Besonders hier in Imst hat es mir außerordentlich gut gefallen, eine Gegend also, die schon etwas abseits der üblichen Route liegt. Hier sind auch Kurtaxe oder ähnliche Grausamkeiten nicht so hoch. Und die Gegend ist unberührter als andere. Ganz sicher werde ich nicht das letzte Mal hier gewesen sein, denn eigentlich habe ich noch sämtliche Gipfel vor mir.
Tschirgant und Muttekopf grüßen. Sie werden ein wenig warten müssen.