Höhle von Niaux
Es war ein Tag der kleinen und großen Vergnügen.
Im Grunde begann es alles ganz langsam.
Der Morgen war eiskalt, so kalt, dass ich den Hauch meines Atems sehen konnte. Die steifgefrorenen Glieder kamen nur langsam in Bewegung, schon das Brühen der ersten Tasse Kaffee in der metallenen Espressomaschine wurde zu einem kleinen Wärmeaustausch. Eingewickelt in die Fleecedecke, die mir auf dieser Reise die schlimmsten Erfahrungen erspart hat, genoss ich den Energieschub des Koffeins, kurz danach einen zweiten, nur der Wärme halber.
Ich saß im Zelt, hatte aber schon hervorgelugt. Es war ein klarer Morgen mit blauem Himmel. Noch aber versteckte sich die Sonne hinter den Gipfeln.
Dann kam sie, schien direkt auf das Zelt.
Ich kann es kaum beschreiben, aber wohlige Schauer zuckten durch meinen Körper. Kälte wurde von einem Augenblick auf den anderen zu Hitze. Wahrscheinlich hätte ich mich in diesem Augenblick auch vor das Zelt setzen können, doch war ich nicht imstande, mich aufgrund des Vergnügens auch nur zu rühren. Die Wärme breitete sich in dem Plastikzelt rasend schnell aus, ich saß einfach nur da und ließ mich verwöhnen. Ich kann mich nicht erinnern, auf dieser Reise schon einmal ein solch einfaches und dennoch befriedigendes Gefühl gehabt zu haben.
Als ich vollständig aufgewärmt, mich von Fleecejacke und langen Hosen befreit und auf T-Shirt und Shorts umgestiegen war, fühlte ich mich bereit, den Tag zu beginnen. Draußen war es natürlich noch nicht so heiß wie im Zelt, aber direkt in der Sonne war es angenehm und wesentlich natürlicher als in meiner künstlichen Behausung.
Dort saß ich dann, las über „schizoide Typen“, zu denen ich eindeutig gehöre, und konnte keinen Weg finden, mich der sonst so bekannten Eile hinzugeben.
Gegen halb elf jedoch begann ich langsam, mich zu bewegen, um den Tag zu beginnen. Schließlich hatte ich heute noch einen Termin.
Es dauerte nicht lange, dann befand ich mich auf der Straße nach Niaux.
Das war allerdings kein Vergnügen mehr, denn schwere Lastwagen donnerten an mir vorbei, die mir jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagten. Es waren nur wenige Kilometer, aber die hatten es in sich. Ich versuchte, die Geschichte etwas logischer zu betrachten und bat darum, wen auch immer, dass wenn mir ein Unfall geschehen sollte, er doch bitte auf der Wanderung zurück zustoßen sollte. Dann hätte ich wenigstens den Höhepunkt meiner Reise erlebt.
Das war natürlich alles Unsinn, denn ich stellte sicher, dass mir nichts geschehen konnte. Wenn mir ein allzu wahnsinniger LKW-Fahrer entgegenkam, rettete ich mich in das hohe Gras an der Seite der Straße. Leider viel zu oft musste ich so vorgehen. Sie fahren alle ein bisschen verrückt hier.
Ich glaube, es dauerte nur eine halbe Stunde, dann tauchte das Ortsschild von Niaux auf. Hier gab es wenigstens Fußgängerwege, zwar schmal, aber dennoch vorhanden, was mir den Eindruck vermittelte, es geschafft zu haben. Natürlich war ich viel zu früh, mein Termin war um 13:30 Uhr, es war erst halb zwölf. Aber das machte nichts, ich setzte mich an den Fluss, las noch ein wenig, lunchte ausgezeichnetes Pain de Campagne und Ziegenkäse und ließ es mir einfach gutgehen. Die Sonne schien nun beinahe zu heiß, obwohl es im Schatten noch kühl war. Die kalte Luft, die vom Boden ausgeht, ist nicht so schnell vertrieben, da macht auch ein heißer Tag noch keinen Unterschied.
Dennoch war es ein gutes Gefühl. Die Berge erschienen kantig und deutlich, die kühle Luft ließ das sonst übliche Flimmern nicht zu, das man sonst im Sommer erlebt. Schnee bedeckte noch immer die nicht allzu fernen Gipfel und erinnerten mich wieder an die kalten Nächte der vergangenen zwei Wochen.
Gegen halb eins begann ich den Aufstieg zu den Höhlen. Den Eingang, bzw. die rostige Stahlkonstruktion davor, kann man vom Tal aus gut sehen. Mir steckte doch noch die Wanderung des Vortages in den Knochen, wenn auch nicht mehr so sehr. Ich werde langsam fitter, beachtlich für die kurze Zeit, die ich erst hier bin.
Ich erreichte die Höhle und war nicht mehr allein. Einige wenige Touristen hatten sich bereits eingefunden, wir, die Privilegierten, die einen Termin hatten. Die Stahlkonstruktion beherbergt übrigens Informationen über die Höhle. Ich nahm mir die halbe Stunde Zeit, die ich hatte, um sie auf französisch zu verfolgen. Und stieß rasch an meine Grenzen. Trotzdem hörte ich nicht auf, auch wenn ich mir am Schluss das englische Prospekt nahm, um nochmals nachzusehen, was ich alles nicht verstanden hatte. Es war noch eine ganze Menge.
Dann war es soweit.
Eine Familie mit Baby wurde darauf hingewiesen, dass man das Kleine nicht mitnehmen könne. Ich fand es etwas hart, einige Minuten später aber verstand ich, dass es so sein musste. Wir, das heißt, die Gruppe aus ca. 20 Personen, wurden alle mit schweren Leuchten ausgestattet, die für ihre Größe allerdings nur ein funzeliges Licht abwarfen. Dann ging es hinein, immer der kleinen Führerin hinterher.
Ich glaube, dass die Höhle auch allein, also ohne die Kunstwerke darin, durchaus sehenswert wäre. Schon am Eingang befinden sich mächtige Tropfsteine, die immer sichtbar wurden, wenn der eine oder andere Lichtstrahl auf sie trafen, was selten genug der Fall war. Man konnte es sich eigentlich kaum leisten, nicht auf den Boden zu leuchten, denn der ist naturgemäß so uneben, dass man die gesamte Konzentration braucht, um nicht hinzufallen. Ich ignorierte natürlich einige Male den gesunden Menschenverstand und wurde zweimal beinahe bestraft. Wahrscheinlich aber sah ich so mehr als die anderen. Es war eine gespenstische Angelegenheit, die Funzeln stellten die einzige Lichtquelle in der sonst völlig finsteren Umgebung dar.
Bald tauchten die ersten Grafities auf.
Menschen haben die Höhlen seit dem 17. Jahrhundert besucht und sich verewigt. Heute sind manche Anmerkungen selbst schon historisch, die oft geschwungenen und kunstvollen Kaligrafien tragen nicht selten Zahlen aus den 1650ern.
Ungefähr einen Kilometer kämpften wir uns voran, so möchte ich es einmal bezeichnen. Der glitschige Boden ließ keine unüberlegten Schritte zu, Pfützen benetzten bald meine Zehen in den Sandalen, so dass ich fröstelte und bereute, nicht doch die Wanderschuhe angezogen zu haben. Dabei war ich im Vergleich noch gut ausgerüstet. Andere trugen Flip-Flops. Da waren meine Trekkingsandalen noch bestens geeignet. Trotzdem würde ich jedem empfehlen, festeres Schuhwerk zu tragen. Auch meine Softshell-Jacke leistete mir gute Dienste, aber auch sie war beinahe zu dünn. Es herrschen dauerhaft 12 Grad in der Höhle. Aber vielleicht bin ich auch nur etwas empfindlich.
Es war also keine einfache Angelegenheit, zu den eigentlichen Kunstwerken vorzustoßen. Unsere Führerin neigte ein wenig zur Dramatik, denn als wir den Salon Noir erreicht hatten, mussten wir alle unsere Lampen ablegen.
Dazu gehört eine Menge Vertrauen, denn ich glaube nicht, schon einmal eine solch totale Finsternis in meinem Leben erlebt zu haben. Es gibt nicht die leiseste Lichtquelle, Schwarz ist das Einzige, das ich wahrnahm. Zum Glück dauerte dieser wirklich hilflose Zustand nicht lange, denn dann erschien ein Spottlicht, das die ersten Malereien zeigte.
Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Und auch einen Tag später fällt es mir noch schwer.
Tiere tauchten an der Wand auf, 15000 Jahre alt. Mit perfekten Linien war ein Hirsch gezeichnet, schwungvoll und voller Selbstvertrauen. Daneben ein Bison. Es erschien, als wären die Künstler erst gestern am Werk gewesen.
Es folgten weitere Tiergruppen, wobei das mächtige Bison am häufigsten dargestellt wurde. Wir erhielten immer nur kurze Augenblicke, in denen wir die Werke betrachten konnten. Aus Furcht vor dem Zerfall werden sie nur kurzzeitig beleuchtet. So tauchten die Bilder wie Blitze vor unseren Augen auf, was die Eindrücke auf der einen Seite verstärkte, auf der anderen das genauere Studieren nicht zuließ. Die Künstler von einst haben nicht nur perfekte Linien gezeichnet, sie haben ebenfalls das Relief der Steinwände in ihre Werke einfließen lassen. Durch das Bescheinen der Tiere von bestimmten Winkeln aus entsteht Bewegung, es scheint, dass ein Bison seinen Kopf dreht. Ein anderes wackelt mit dem Schwanz. Wie müssen diese Effekte erst bei Fackellicht gewirkt haben?
Einzigartig.
Auch der Ort selbst ist beinahe mystisch. Der Salon Noir ist kathedralenartig in die Höhe gestreckt, eine gewaltige natürliche Kuppel. In der übrigens eine fantastische Akustik herrscht. Es echot sogar. Zufall? Ganz sicher nicht.
Man muss dazu wissen, dass die „Höhlenmenschen“ nicht in dieser Höhle wohnten. Sie kamen her, um zu malen, nichts anderes. Das ist es, was für mich so rätselhaft erscheint.
Menschen zu dieser Zeit müssen gewaltige Anstrengungen unternommen haben, um dorthin vorzudringen. Allein das Sammeln von Harz für Fackeln oder Tierfett für einfache Öllampen muss viel Zeit erfordert haben. Zeit, die woanders, nämlich bei den täglichen Arbeiten des Jagens und Sammelns gefehlt haben muss. Unsere Führerin stellte die Frage, ob jemand eine Vorstellung davon hätte, warum die „Höhlenmenschen“ diese Kunstwerke geschaffen haben.
Ich kann mir aufgrund der Tatsache, dass es zum einen mühevoll gewesen sein muss, zum anderen so künstlerisch ist, dass es eine Menge Talent und Übung braucht, um so zeichnen zu können, nichts anderes vorstellen, dass eine Art Kult oder Religion der Grund für die Malereien gewesen sein muss. Die Jäger und Sammler der Zeit haben vielleicht die Bisons gemalt, um deren Kräfte zu gewinnen. Oder um ihre Geister zu bannen. Ich weiß es nicht. Dennoch muss es den Menschen damals sehr wichtig gewesen sein.
Nach nur zehn Minuten in dem Salon Noir, der 90% der Malereien der Höhle enthält, verließen wir den Ort wieder, trafen dabei auf die nächste Gruppe, bestehend aus spanischen Schülern. Die waren so still und beeindruckt, dass es beinahe schon lustig war.
Als ich wieder nach draußen trat, konnte ich die grelle Sonne beinahe nicht ertragen. Die Wärme streichelte meine Haut, so dass ich eine Gänsehaut bekam. Alle Sinne waren durch die Dunkelheit und Kühle geschärft. Beinahe unwirklich erlebte ich die Farben der Wälder und der Berge.
Es war ein einmaliges Erlebnis, in jeder Hinsicht, eines, das meine Fantasie beflügelt. Die Anstrengungen waren vergessen, die unangenehme Wanderung nach Niaux und meine Beinahe-Ausrutscher in der Höhle. Es war sogar so, dass ich beschwingt in Richtung Tarascon ging, die Gefahr der Straße nicht mehr wahrnehmend, so dass ich schneller wieder dort ankam, als ich gedacht hatte.
Eine Kleinigkeit passierte noch.
Ein Riemen meiner Sandalen riss. Meiner neuen Sandalen. Aber auch das hatte etwas Gutes, denn es geschah kaum 500 Meter vom Campingplatz entfernt. Nicht auszudenken, wenn es in der Höhle passiert wäre. Also ist alles noch einmal gut gegangen. Und ich hatte den vielleicht schönsten Reisetag erlebt, den ich abends mit einem Ricard auf der von der Sonne beschienenen Terrasse eines Cafés beschloss.