Beginn der Rückfahrt

Ich schreibe einmal wieder aus dem Gedächtnis. Nicht weil ich den Tag gestern verschwendet habe, sondern weil er einfach so anstrengend war, dass ich mich nicht mehr habe aufraffen können, als ich dann endlich Zeit gehabt hätte. Aber der Reihe nach.

Die Nacht von vorgestern zu gestern war mehr als stürmisch. Seit Wochen regnete es das erste Mal wieder, die Tropfen knallten vehement auf das blecherne Dach und behinderten meinen Schlaf. Als die Sonne aufging, erinnerten nur einige Pfützen daran, denn der Himmel war wieder strahlend blau, die Sonne heiß, einzig das Meer war unruhig. Es war trotzdem ein Zeichen, alles schien etwas anders. Also packte ich. Ich trödelte ein wenig, verabschiedete mich noch von einigen anderen Campern. Seit zwei Wochen stand ich dort, wo ich stand, also machte mich das beinahe schon zu einem Dauercamper. Eine eigenartige Vorstellung, denn dieser Gedanke ist mir völlig neu. Erst gegen halb elf kam ich los, machte noch einmal Halt beim ARD-Discounter, um einige sizilianische Köstlichkeiten zu erstehen. Meist Wein übrigens, den ich auf meinem Bett verstaute, in der Annahme, dass er dort sicher wäre. Was man sich alles so denkt.

Um von Sizilien in Ruhe Abschied zu nehmen, entschied ich wider besseres Wissens noch einmal durch die Dörfer zu fahren, also nicht die Autobahn nach Messina zu nehmen. Das war die erste unglückliche Entscheidung des Tages. Zwar sind die Orte malerisch, die Küstenstraße auch, aber der Verkehr eben nicht, der mir wieder jeden Spaß an der Fahrt nahm. Statt mich also am schönen Tag zu erfreuen, musste ich höllisch aufpassen, nicht gegen ständig drängelnde und unmöglich parkende Sizilianer zu fahren. Einen letzten Blick konnte ich noch auf den wolkenverhangenen Ätna werfen. Seine Hänge waren wieder schneebedeckt, so wie es eigentlich im Januar sein soll. Als ich mit Nina in Taormina war, hatte die Wärme der weißen Pracht den Garaus gemacht. Nach anderthalb Stunden war ich in Taormina, erinnerte mich dort an meine Zeit mit Nina, war aber auch schnell vorbei. Ich dachte, dass es von jetzt an schneller gegen würde. Ein Trugschluss. Auch hier benötigte ich für die 40 Kilometer wieder ca. 90 Minuten. Bereits in Messina schnitt mich ein Geländewagen, zwang mich zur ersten Vollbremsung der Reise. Ich hörte hinten nur ein Klirren, der sauer-fruchtige Geruch, der sich danach im Innenraum ausbreitete, ließ keinen Zweifel offen: Der Wein auf dem Bett hatte seinen Weg auf den Fußboden gefunden.

Es kann sich niemand vorstellen, wohin Rotwein spritzen kann, wenn man ihn aus 40 Zentimetern hinunterbefördert. Der Gestank war bestialisch, ich hielt natürlich an und wischte auf. Ein Vorhang war so voll von dem Zeug, dass ich ihn sofort einweichen musste. Das Tragische an der Geschichte: Die Flasche Wein hatte zu den Teureren gehört. Wenn ich die Autobahn genommen hätte, wäre ich also summa summarum billiger davon gekommen. Das ärgerte mich ein wenig. Zu allem Überfluss hatte ich auch die Fähre um 14 Uhr verpasst, um ca. zwei Minuten. Doch das hielt ich für nicht besonders tragisch. Schließlich hatte ich mir einen Campingplatz bei Tropea ausgesucht, nur 85 Kilometer entfernt von Messina. Zumindest laut Garmin.
Von der Fähre aus warf ich einige letzte Blicke auf Sizilien, die faltigen Bergketten der Insel, das Getümmel in den Straßen. Es war für einige wundervolle Wochen meine Heimat gewesen, ein würdiges letztes großes Ziel meiner so langen Reise. Trotzdem konnte ich keine Wehmut spüren, eher ein Gefühl des freudigen Aufbruchs, das in mir immer unbändigen Freiheitswillen hervorruft. Die Fahrt von nun an ging etwas schneller, auch wenn die Autobahn einer Dauerbaustelle gleicht. Schon nach 50 Kilometern jedoch zwang mich Garmin, diese zu verlassen. Das war der zweite Fehler des Tages. Ich hatte mir die Strecke nicht auf der Karte angesehen, sonst hätte ich gemerkt, dass mich mein Navi einmal wieder auf die unmöglichsten Straßen leitete. Es war ein fürchterlicher Kampf mit teilweise weggespülten oder völlig durchlöchertem Asphalt, manchmal war nicht mehr als Schrittgeschwindigkeit möglich. Dann ging es nicht mehr weiter. Ich sollte rechts abbiegen, doch da lag ein Erdhaufen. Also bog ich links ab, doch fand ich dort ebenfalls nach Hundert Metern eine Absperrung. Hier hätte ich wissen müssen, dass etwas nicht stimmte. Ich bog also in einen Feldweg ein, um überhaupt weiter zu kommen, nur um nicht zurückfahren zu müssen. Das wäre aber die logische Entscheidung gewesen. Was nun folgte, ist beinahe unbeschreiblich. Die Straße wurde immer schlechter, teilweise bestand sie nur aus aufgeweichtem Sand, so dass ich ständig damit rechnen musste, stecken zu bleiben. Ich gewöhnte mir an, einfach weiterzurollen, sobald der Untergrund unsicher wurde. So kam ich hindurch. Die Zeit rann auch dahin, bald schon würde es dunkel werden – ein Albtraum bei solchen Bedingungen. Schließlich schaffte ich es auf eine Art Hauptstraße, was nicht hieß, dass die Steigungen oder Serpentinen nachließen. Als die Sonne unterging, rollte ich an der offenen Schranke des Campingplatzes vorbei.
Geschafft.
Ich freute mich auf eine warme Mahlzeit und vielleicht eine heiße Dusche, nicht immer selbstverständlich in diesen Gefilden. Doch wenige Meter weiter versperrte mir ein eisernes Tor den Weg. Der Platz unter mir sah völlig leer aus. Ich rief, bekam aber keine Antwort. Da stand ich also, inmitten des Nichts, es wurde dunkel und kalt.

Es sind die Situationen, in denen selbst ich beginne, mich einsam zu fühlen. Nach zwanzig Minuten der Warterei auf vielleicht doch noch eine wundersame Öffnung des Tores rief ich einfach die Nummer des Platzes an, die ich im Acsi-Führer gefunden hatte. Es ging auch jemand ans Telefon. Es stellte sich heraus, dass ich sogar richtig verbunden war. Leider teilte mir der freundliche Mann am anderen Ende mit, dass die Bäume des Platzes seit heute früh beschnitten würden, so dass der Platz noch drei Tage gesperrt wäre. Nun war es amtlich, ich befand mich in einer Sackgasse.
Ich probierte noch einen Stellplatz aus, der sich am Bahnhof befinden sollte. Dabei geriet ich in ziemliche Bedrängnis, denn Garmin lotste mich in winzige Straßen, an deren Ende oft ein winziger Torbogen unter den Bahngleisen wartete und somit die Weiterfahrt unmöglich machte. Einmal musste ich sogar befürchten, gar nicht weiter zu kommen, aber irgendwie schaffte ich es dennoch, auf sandigem Untergrund zu wenden. Ich kam mir wirklich vor wie in einem schlechten Traum. Der Platz am Bahnhof, den ich irgendwann doch noch erreichte, stellte sich als so düster und unheimlich heraus, dass ich dort nicht übernachten wollte. Man muss sich ja nicht so präsentieren.

Ich dachte kurz nach, mittlerweile war es schon nach sechs, eigentlich also nicht spät. Aber die Fahrt des Tages steckte mir bereits jetzt in den Knochen. Meine Konzentration nimmt ohnehin nachts ab, so dass ich recht müde war. Trotzdem entschied ich mich, wieder zurück zur Autobahn zu fahren. Dort würde ich schon eine Lösung für das Übernachtungsproblem finden.
Garmin wählte jetzt wesentlich besser, vielleicht auch, weil ich konsequent den Schildern zur Autobahn folgte. Auf breiten Straßen kam ich gut voran, fuhr noch durch eine größere Stadt Vibo Valentia, die ich sicherlich besichtigt hätte, wenn ich im Hellen angekommen wäre. Es war jedenfalls sehr voll auf den Straßen, ein gutes Gefühl nach der Einsamkeit in dem winzigen Küstenort, aus dessen Richtung ich kam.
Um kurz nach sieben befand ich mich dann auf der Autobahn, genehmigte mir erst einmal einen Espresso. Dabei kam mir die Idee, dass ich noch etwas weiterfahren könnte, dann aber bei Gelegenheit auf einer dieser Tankraststätten zu übernachten. Die sind in Italien immer offen, immer hell, also sicher.. Meine ich zumindest. Ich hielt durch bis neun, dann wollte ich noch einmal Pause machen. In diesem Moment öffneten sich die himmlischen Schleusen. Herunter kam nicht nur Regen, sondern körniger Hagel von beachtlicher Größe. Das war das Ende meiner Irrfahrt dieses Tages. Ich entschied, hier zu bleiben. Ich dachte kurz darüber nach zu schreiben, ließ es aber nach einigen Sekunden, weil mir fast die Augen zufielen. Es waren ereignisreiche Stunden gewesen, die ihren Tribut forderten. Komisch war nur, dass ich nicht sofort schlafen konnte. Ich brauchte eine halbe Stunde, um wieder herunterzukommen, trotz der Müdigkeit.

Die Nacht war eiskalt, es regnete/hagelte unaufhörlich, dazu kam ein Gewitter, das Stunden dauerte. Manchmal entfernte es sich, kam aber immer wieder zurück. Ich war froh, eine Wärmflasche zu haben, die ich sogar nachts um vier wieder neu befüllte.
Es war also wieder eine anstrengende Nacht, die mir aber Spaß gemacht hat. Vielleicht habe ich das viel zu selten gemacht, einfach wild zu übernachten. Es war etwas abenteuerlich, ungeplant jedenfalls. Das gehört dazu. Gegen acht fuhr ich weiter, wundervoll früh also. Einige Kilometer weiter sah ich ein Schild mit der Angabe der Höhenmeter. 650. Kein Wunder, dass es so kalt gewesen war. Ich fuhr vorbei an schneebedeckten Bergen, ein herrlicher Anblick aus einem nun gut beheizten Auto heraus. In einem Auchan erstand ich noch Schneeketten, was ich für eine gute Idee halte, angesichts der Tatsache, dass ich in den nächsten Tagen einige Pässe passieren muss. Wenn schon keine Winterreifen, dann also etwas fürs Gewissen. Wenn auch wenig.

Jetzt bin ich auf einem Campingplatz bei Sibari, wo ich schon vor vielen Wochen Halt gemacht hatte. Meine Route steht jetzt beinahe fest. Morgen Neapel, übermorgen Florenz oder Siena, dann Ligurien, schließlich Provence und Lyon. Ich werde vernünftige Etappen bewältigen, nicht so wie gestern, auch wenn ich eigentlich nur 350 Kilometer gefahren bin. Das meiste davon allerdings Umweg. Aber auch das gehört dazu. Nun erhole ich mich ein wenig, schließlich ist Sonntag. Eine Tatsache habe ich dabei fast vergessen: Ich bin auf der Heimreise.
Wir werden sehen, denn alles wird gut. Wenn nicht so, dann anders.