Rom

Zwei Dinge habe ich heute festgestellt. Vor einigen Tagen hatte ich behauptet, die Hauptstadt Italiens recht gut zu kennen. Absoluter Unfug. Ich kenne ein Bruchteil und habe besonders nach diesem Tag den Eindruck, Jahre zu brauchen, bis ich so etwas jemals wieder behaupten kann. Und das würde voraussetzen, dass ich hier leben würde. Zum Zweiten habe ich gemerkt, dass ich körperlich regelrecht am Ende bin. Zwei Tage Sightseeing, meine Füße schmerzen, meine Oberschenkel sind taub und mein Rücken meldet sich alle halbe Stunde und teilt mir mit, dass er jetzt gerne entzweibrechen würde. Natürlich lasse ich ihn nicht. Zu Wort kommen.

Aber ein Gutes hatte der Tag schon von Beginn an. Das Wetter ist umgeschlagen. Heute Morgen herrschten bereits beinahe frühlingshafte Temperaturen, somit konnte ich die Handschuhe im Wagen lassen. Kurz nach dem Frühstück las ich noch im Buch, beendete das Kapitel, Grundvoraussetzung für den heutigen Tag. Ich wollte etwas Besonderes machen, etwas, das ich hier noch nicht getan hatte. Es war Caravaggio-Tag. Hier in Rom hängen sechs Meisterwerke, die frei zugänglich sind. Aber es waren nicht nur die Gemälde des Meisters, auch über das Rom des siebzehnten Jahrhunderts lernte ich heute eine Menge. Eines kann ich vorwegsagen. Dieser Maler war zwar ein Genie, aber gleichzeitig auch ein „Thug“. Ein brutaler und geistloser Schläger, Säufer, Hurer, was auch immer. Und das war letztlich gar nicht ungewöhnlich für diese Zeit. Rom war bereits zu antiken Zeiten gefährlich. Das änderte sich auch in den folgenden Jahrtausenden nicht. Anscheinend jedoch gab es Charaktere, die diese Verruchtheit mochten. Caravaggio war einer von ihnen. Er trieb sich herum, traf das gemeine Volk, lebte sich aus, in jeglicher Hinsicht. Ich bin mir sicher, dass er das brauchte. Denn ich traf den Maler in seinen Gemälden wieder, gleichzeitig sah ich die Menschen, die er gemalt hat. Ausschließlich Römer dieser Zeit. Es ist, als schaute man in die Gesichter der echten Menschen des siebzehnten Jahrhunderts in Rom, der Arbeiter, Diebe und Huren. Von Letzteren gab es hier zu dieser Zeit geschätzte 300.00. Das Buch „Die Geheimnisse Roms“ von Corrado Augias teilte mir mit, dass das 18 Prostituierte auf Hundert Einwohner waren, Frauen und Kinder mitgezählt. Beachtlich, vor allem wenn man bedenkt, dass die Bedürfnisse der vielen Pilger befriedigt werden mussten. Alles sehr heilig.

Das ist das Rom, das Caravaggio verewigt hat. Ich wollte meine Tour am Piazza del Popolo beginnen, in der Kirche Santa Maria del Popolo. Dummerweise fand ein Gottesdienst statt, als ich dort eintraf, sehr störend. Aber ich muss gestehen, dass ich gestern schon einmal hineingepiept hatte, trotzdem möchte ich nicht vorgreifen, denn ich würde den Besuch trotzdem nachholen. Hier hängen zwei der Gemälde. Woanders gibt es mehr. In der Nähe des Piazza Navona steht die Kirche San Luigi. Ich bin sicher schon Dutzende Male dort vorbeigelaufen. So wie an den meisten Kirchen in der Stadt. Hier hängen drei Gemälde des Meisters, eines davon auch einem Laien wie mir bekannt. Es ist eines der kraftvollsten Werke, schockierend, gewalttätig, so wie Caravaggio selbst. Es handelt sich um das Martyrium des Matthäus. Über dem alten Mann, auf dessen Gewand bereits Blutflecken starren, steht sein Henker, mit gezücktem Schwert, die Grimasse verzerrt. Die Grausamkeit der Zeit steckt in diesem Gesicht. Ohne Gnade wird der Henker sein Werk vollenden, in wenigen Sekunden sein Schwert zum letzten tödlichen Schlag heben. Caravaggio hat es studiert, an den schlimmsten Exekutionen der Zeit beigewohnt und ist dem Rat Da Vincis gefolgt, sich die Gesichter der Henker im Moment der Tat gut anzusehen. Hier hat er es perfekt getroffen. Fakt ist auch, dass Matthäus‘ Gesicht gezeichnet ist vom Alter, damals alles andere als üblich. Die grauen Haare im Bart und die faltige Stirn sind so realistisch, dass es beinahe eine Fotografie sein könnte. Die Menschen auf den Bildern, dessen bin ich sicher, waren alles Römer aus den damaligen Unterschichten, die Caravaggio gerne als Modelle gewählt hat. Zumindest laut Augias.

In der gleichen Kirche sind noch weitere Bilder des Malers, alle im Zusammenhang mit Matthäus. Beeindruckend auch dabei die Berufung des Heiligen durch Jesus. Als Zöllner kann der Apostel nicht sofort von seinem Geld lassen, eine realistische Einschätzung also. Wer würde schon all seinen Reichtum aufgeben, nur um einem verrückten Nazarener zu folgen, der nicht zum Friseur gehen möchte? Auch hier sind die Menschen einfach, man sieht es förmlich in ihren Gesichtern. Zwischen den bereits beschriebenen Gemälden hängt noch eines, das mich aber anscheinend nicht bewegt hat, denn ich kann es mir nicht aus dem Gedächtnis zaubern. Es muss ein andermal beschrieben werden.

Nach diesem Besuch brauchte ich bereits den ersten Kaffee. Ich machte ganz sicher nicht denselben Fehler wie den Tag vorher, diesmal blieb ich an der Theke stehen und zahlte 80 Cent für meinen heiß geliebten Espresso Macchiato. Ich liebe es, wenn sich die Süße mit der Bitterkeit vereint, dazu die feurige Wirkung des Koffeins durch die winzige Milchhaube etwas abgerundet wird. Der Kellner war so nett, mir den Weg zur nächsten Kirche zu zeigen, die ebenfalls nur einen Steinwurf vom Piazza Navona entfernt liegt. Hier hatte ich leider auch Pech, denn es war bereits halb eins, die Kirche schließt für vier Stunden um die Mittagszeit.
Ich wusste jetzt nicht recht, was tun. Ich lief ungezielt durch die Straßen. Was mir die letzten beiden Tage noch genügt hatte, schien mir jetzt unvollkommen. Aber ich machte das Beste daraus. Und ich entdeckte Kleinigkeiten, die man nur hier entdecken kann. In der Via dei Coroni war ich auf der Suche nach dem Art Deco – Schreibtisch, den ich vor einigen Tagen vergessen hatte zu fotografieren. Den fand ich nicht, das Geschäft war anscheinend heute nicht geöffnet. Aber ich sah etwas anderes. Direkt neben einem anderen Laden steckte im Putz eine antike, vielleicht auch mittelalterliche Statue heraus. Von niemandem entdeckt, halb hinter dem Blätterwerk einer Pflanze verborgen, stach die marmorne, winzige Statue heraus aus dem Gebäude. Das liebe ich an Rom. Überall findet man winzigste Zeugnisse der Vergangenheit, man muss nur genau aufpassen. Das Werk ist leider sehr mitgenommen, ich konnte nichts erkennen außer einem Torso und einem ramponierten Kopf. Trotzdem, es sind diese kleinen Geheimnisse, die meine Fantasie anregen. Genauso wie das Haus in einer winzigen Gasse unweit des Piazza dei Fiori. Hier ragten aus dem Mauerwerk, das ich sogar für imperial-römisch halten würde, antike Säulen heraus. Ich würde jede Wette eingehen, dass dieses Haus mindestens auf den Grundmauern eines an die zweitausend Jahre alten Gebäudes steht, wenn nicht sogar das Untergeschoss in Gänze aus dieser Zeit stammt. Wieder eine Kleinigkeit, die mich in Erstaunen versetzte.

Ich schlenderte noch eine Weile durch die Stadt, ging einfach ungefragt in den einen oder anderen Hinterhof und fotografierte, fand überall Kleinode, die sonst nicht zu sehen sind, denn die meisten Gebäude hier sind Palazzi. Mindestens. Ich sah herrliche Deckengemälde in nicht-zugänglichen Häusern, spähte durch Fenster und entdeckte Erstaunliches. Ich könnte hier ein Leben lang umherstreifen und würde immer etwas Neues finden, dessen bin ich sicher.
Irgendwann stand ich vor der Engelsburg, wo die Hinrichtungen stattfanden, als Caravaggio aktiv war. Ich stellte mir die grausam entstellten Leichen der Verbrecher vor, die auch der Maler gesehen haben muss. Komisch, dass mich so etwas ungemein fasziniert.
Von hier war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Petersdom. Allerdings schreckte mich die Schlange ab, die sich um den ganzen Platz herum drehte. Stattdessen beobachtete ich die Männer, die auf zwei Kränen den riesigen Weihnachtsbaum schmückten. Hier spürte ich das erste Mal, dass die letzten Tage sehr anstrengend gewesen waren. Ich musste mich auf eine der Säulenbasen setzen und mich von italienischen Kindern nerven lassen, nur um eine Minute später von der Polizei gänzlich verscheucht zu werden. Mist. Ich schleppte mich zur Kirche San‘ Agostino zurück, die inzwischen wieder offen war. Hier fand ich das vierte Bild des Meisters, eine ungewöhnliche Madonnenstatue. Wer mag diese hübsche, wenn auch herbe Frau gewesen sein, die Caravaggio gemalt hat? Das Jesuskind jedenfalls macht mit dem Zeigefinger die gleiche Bewegung wie Adam in der Sixtinischen Kapelle. Eine Hommage eines Künstlers an einen anderen? Nun, den Vornamen Michelangelo teilen sie jedenfalls.

Jetzt wollte ich auch noch die letzten beiden Werke sehen. In Santa Maria del Popolo war inzwischen der Gottesdienst beendet. Ich sah mir die beiden fehlenden Gemälde nochmals an. Hier beeindruckte mich besonders Paulus, der gerade ans Kreuz geschlagen wird. Auch er ist ein alter Mann, die Muskeln entsprechen denen eines Greises, der Körper aber ist gespannt wie der eines Jugendlichen. In seinem Gesicht steht die Akzeptanz des Unvermeidlichen, die Schergen bemühen sich, den Jünger umgedreht ans Kreuz zu schlagen.
Gegenüber hängt das Bild „Bekehrung des Paulus“, von dem Augius sagt, dass es die schönste Pferdedarstellung der Geschichte enthält. Ich würde dem nicht unbedingt zustimmen, aber ästhetisch ist es in jedem Fall. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufnahmefähig. Ich schleppte mich zur U-Bahn, die leider so unregelmäßig fuhr, dass ich erst sehr spät zum Camper zurückkam. Auch fuhr mir der Bus vor der Nase weg.

Es war ein wundervoller Tag. Morgen werde ich wieder auf Entdeckungsreise gehen, ein anderes Kapitel des Buches lesen und dann die Stadt erkunden. Aber jetzt heißt es ausruhen. Ich habe es mir verdient.