Selcuk

Durch die Datenrettungsaktion verlor ich wertvolle Stunden, die sich kaum mehr aufholen ließen. Eine halbherzige Lektoratssession dauerte länger als erwartet, denn mich ärgerte noch immer meine eigene Dummheit. Dabei war es mir gelungen, sämtliche Dokumente wieder herzustellen, doch das wichtige, mein Journal nämlich, blieb verschwunden. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte ich gestern Morgen nicht eine Sicherungsdatei auf dem Yahoo-Server abgelegt. Schon der Verlust eines einzigen Tages ärgerte mich, bei zwei Wochen hätte ich sicher einen Herzanfall bekommen. Was mich wirklich bewegte, war wieder einmal meine Schusseligkeit, die Ursache des Verlustes war. Wie komme ich dazu, nicht genau hinzusehen, wenn ich lösche? Ich muss den gesamten Ordner mit allen Dateien aus Versehen in den elektronischen Papierkorb geschoben haben. Als ich merkte, was vor sich ging, konnte ich diesen Prozess nicht mehr stoppen, fuhr daher den PC herunter. Das führte sicher zum Verlust der Daten. Wieder einmal zeigte sich meine Schwäche, Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit, auch bei wichtigen Arbeitsabläufen. Ich glaube, das ist es, was mich am meisten ärgert. Nichts hat sich geändert, immer wieder geschieht mir das und ich bin nicht in der Lage, mit dieser Schwäche zum einen zu leben, zum anderen mir die daraus entstandenen Peinlichkeiten zu verzeihen. Es ist aber jetzt nun mal, wie es ist. Die Datei ist verschwunden.

Durch diese Aktion konnte ich das einigermaßen gute Wetter heute Morgen nicht ausnutzen. Es zog förmlich an mir vorüber. Als ich endlich mit der Arbeit fertig war, näherte sich der kleine Zeiger bereits der Zwölf. Das wäre noch nicht schlimm gewesen, was viel schwerer wog, waren im wörtlichen Sinn die Wolken am Horizont. Noch schienen sie weit entfernt, über dem Meer, aber das Donnern war untrüglich. Ich kämpfte mit mir, mit dem Fahrrad in die Stadt oder gar mit dem Camper? Oder gar nicht? Meine Stimmung war deutlich aggressiv, noch immer kochten meine Emotionen. Daher entschied ich mich, meine überschwängliche Energie abzuradeln. Trotz des Donners und des bereits in der Luft liegenden Regens.
Die Fahrt verlief so, wie ich mir eine kleine Radtour vorstellte. Auf ebener Strecke strampelte ich in Richtung Selcuk. Da mich am Ende die Eile getrieben hatte, hatte ich meinen Rough Guide vergessen. Wenn schon schlampig, dann richtig.
Ich hatte mich für die Fahrt nach Selcuk entschieden, weil mir der alte Skulpteur gestern erzählt hatte, dass heute Markt wäre. Nur heute. Einen türkischen Wochenmarkt habe ich noch nicht gesehen, daher interessierte es mich. Mein letzter Marktbesuch ist Monate her, ich glaube, er fand in der Provence statt. Daher war ich natürlich gespannt.
Wie durch ein Wunder erreichte ich Selcuk völlig trocken. Der Regen holte mich nicht ein, auch wenn mir der Himmel nach wie vor drohte. Durch das Fehlen der Steigungen kam ich auch gut voran.

Den Markt fand ich sofort. Er war größer als ich gedacht hatte, wohl geordnet und sauber. Er war nicht anders als der in z.B. Aix-en-Provence, auch wenn sich die Käsesorten unterschieden. Natürlich. Aber die Früchte und das Gemüse waren jung und frisch, wundervoll präsentiert.
Der Markt hier ist genau eingeteilt. Kleidung gibt es in einem Teil zu kaufen, in einem anderen zum Beispeil Werkzeug. Es war durchaus interessant. An einem Stand blieb ich stehen und schaute mir Uhren an. Breitling, Rolex, D&C. In Bosnien habe ich nichts gekauft, in Montenegro auch nicht. Hier aber schlug ich zu, involvierte den Händler in eine Verhandlung, bei der ich sicher verlor, aber nicht so viel zahlte, wie er gewollt hatte. Immerhin. Damit habe ich meine eigenen Grundsätze einmal wieder ausgehebelt. Ich mag gar nicht zurückblättern und mir meine Texte zum Thema Fälschungen durchlesen. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm. Ich werde es beim Lektorat in einem Jahr merken. (Anmerkung ein Jahr später: Dieses verdammte Ding lief kein halbes Jahr. Also Finger weg von den Markenfälschungen.)

Dann kam der große Regen doch noch. Ich schaute mir gerade eine byzantinische Zisterne an, Trümmer mit einigen korinthischen Säulen. In der Ferne sah ich eine Festung, doch die sollte ich heute nicht erreichen. Denn die ersten Tropfen fielen und ich flüchtete in ein Café, wo ich jetzt sitze und die Frische der Nässe spüre. Der Himmel grollt mir noch immer und ich werde sicher noch etwas warten, bis ich die acht Kilometer bis zum Campingplatz zurückfahren werde. Dank der Ausgrabungsstätten ist Selcuk ein touristischer Ort, der von Restaurants mit den immer gleichen Speisekarten nur so wimmelt. Ich mag das heute, es gibt mir ein Gefühl der Dazugehörigkeit.
Auf meinem Weg in die Stadt bin ich an den Ausgrabungsstätten in Ephesus vorbei gekommen. Ein Bus nach dem anderen bog ab, schüttete sicher eine Unmenge an Touristen am Gelände aus. Ich komme langsam zu der Einsicht, dass ich keine Lust habe, diese Stätte zu sehen. Eigentlich ist es wieder eine Trümmertour. Niemand ist bis jetzt auf die Idee gekommen, solch eine Stadt wieder komplett aufzubauen. Nicht nur einzelne Gebäudeteile, nein, komplett. So aber sehe ich immer wieder halb abgetragene Theater oder umgestürzte Säulen eines einst prächtigen Tempels, von dem eigentlich nichts mehr übrig ist. Ich weiß, dass ich an meiner Reisesättigung leide. Schon lange ist mir die anfängliche Neugier verloren gegangen, die sich noch in den Berichten über Marokko findet. Es ist schade und dennoch ein Gefühl der Gewöhnung, das wohl normal ist. Ich habe noch kein Mittel gefunden, etwas dagegen zu tun, es zu überwinden. Vielleicht kann ich es nicht. Wir werden sehen. Das Tanzen gegen den Rhythmus sollte helfen, nur wie, das weiß ich noch nicht.

Abfahren möchte ich eigentlich noch nicht. Vielleicht besuche ich morgen Tire, ebenfalls eine Empfehlung des Bildhauers. Das hängt natürlich vom Wetter ab. Bei Regen fällt vieles ins Wasser…. Meine Reise auch.