Wanderung zur Halbinsel Rodopou

Ausruhen. Klar.
Ich habe ja sonst nichts zu tun.
Jedenfalls bereitete ich mir am Morgen nicht selber Stress, sondern schlief erst einmal aus. Gegen sieben stand ich in Ruhe auf, machte einen leichten Yoga-Flow, nur etwa 15 Minuten lang, dann hatte ich ein paar Dinge zu tun. Von der jungen Katzendame, die mir gestern ein ganzes hartgekochtes Ei aus den Rippen geleiert hatte, war nichts zu sehen. Wahrscheinlich kennt sie um diese Zeit eine andere Futterquelle.
Nicht schlimm, hier streunen einige gut genährte Tiere umher, alle freundlicher als unsere Katzen zu Hause. Vielleicht kein Wunder, sie hängen von der Freundlichkeit der Leute hier ab, die sie füttern. Wie es aber aussieht, haben sie ein gutes Auskommen. Ich habe beobachtet, dass die Leute in der Taverne sie füttern, und zwar die Einheimischen. Ein gutes Zeichen. Vielleicht wendet sich das Leben vieler Katzen hier doch zum Besseren. Einige der Tiere sind auch kastriert, erkennbar am abgeschnittenen Ohr. Also nicht das ganze Ohr ist abgeschnitten, sondern nur ein winziger Teil. Die Katzendame von gestern Abend allerdings noch nicht. Sie wird leider in Zukunft einige süße Katzenkittens produzieren. Die allesamt um ihr Überleben werden kämpfen müssen.
So viel dazu.
Ich machte morgens noch etwas Wäsche, duschte in Ruhe, aber um zehn Uhr wusste ich eigentlich nicht mehr wohin mit mir. Es war weiterhin stürmisch. Ich konnte doch den Tag nicht auf dem Campingplatz verbringen? Auf die Stadt hatte ich wenig Lust, da ist nichts weiter. Auf den Strand ebenso wenig, viel zu windig, viel zu kalt/heiß im ständigen Wechsel.
Also wandern.
Das habe ich eine Weile nicht mehr gemacht. Der östliche „Finger“, also die natürliche Begrenzung der Bucht, die Halbinsel Rodopou, liegt nicht weit vom Campingplatz entfernt. In aller Ruhe bereitete ich mich vor, merkte aber erst, als ich schon den Eingang zum Platz erreicht hatte, dass ich noch Badeschlappen trug. Das ist selbst mir zu gefährlich.
Also wieder zurück, wenigstens die Trekkingsandalen mussten mit. Ebenso mein langes Oberteil, das einzige, das ich mithabe. Wird es bis zum Schuss reichen?
Ich weiß es nicht. Wir werden sehen. Es ist nicht so, dass ich meine Ausrüstung nicht schon habe ergänzen müssen. Es ist sogar so, dass mehr Budget dafür drauf gegangen ist, als für meine Nahrung. Na ja, ich übertreibe. Aber ich brauche wirklich nicht viel hier. Brauche ich nie. Ein paar Euro für Lebensmittel. Und zwei oder drei für einen Kaffee an einem netten Ort. Mehr ist nicht nötig.
So also lief ich los, immer in Richtung Osten, auf die Berge zu, die mein Ziel werden sollten. Das Meer war aufgewühlt, das Wasser peitschte auf den Strand. Überall flatterten die roten Fahnen, die das Baden verboten. Ein Engländer hielt sich nicht daran. Aber damit kam er nicht durch. Ein Bademeister fuhr offensichtlich den Strand ab. Er hielt sein Auto an und benutzte seine Trillerpfeife, um dem badenden „Verbrecher“ zu signalisieren, sofort das Wasser zu verlassen. Ich weiß nicht, was Leute sich denken. Das ist schon suizidal.

Ich kam an einem kleinen Ort vorbei, an der Straße, die am Strand entlang führt. Dann musste ich eine Art Fluss überqueren, zu dieser Zeit nur ein Rinnsal, direkt am Strand. Ich kann mir denken, dass er im Winter/Frühjahr nicht passierbar ist, zumindest nicht an dieser Stelle. Dann folgte der winziger Ort Nopigia, der vollkommen verlassen wirkte. Aber es gab zwei Tavernen, beide noch geöffnet. Vielleicht verbringen doch einige Touristen hier die letzten Tage der Saison. Vielleicht aber kommen in den Herbstferien wieder ein paar mehr Urlauber. Ich könnte es mir vorstellen.
Die Teerstraße wurde irgendwann zum Sandweg, der in die Berge hineinführte. Oder eher an ihnen vorbei, immer am Meer entlang. Es wurde noch einsamer, aber ein paar Wanderer traf ich trotzdem. Der breite Sandweg wurde irgendwann zu einem Pfad. Unterwegs sah ich einige Ziegenherden, auch einzelne Tiere, die ihr Futter oft in und auf Bäumen suchen. Faszinierende Kreaturen. Sie klettern wie Weltmeister. Eine Ziege beobachtete ich in sicher zweieinhalb Metern Höhe. Beachtlich. Keine Ahnung, wie die auf den Baum gekommen ist. Aber sie fraß ruhig vor sich hin. So als wäre es das Normalste der Welt. War es wahrscheinlich auch.
Der Wanderweg wurde noch ruppiger und rauer, ebenso die Natur. Nackte Felsen unter mir, das Meer, das sich an ihnen brach, über mir karge Berge. Kykladisch, würde ich fast sagen. Es erinnerte mich stark an Sifnos oder Serifos. Herrlich. Ich fühle mich an solchen Tagen eigentlich immer am wohlsten. Nicht auf dem Rad, nicht in Städten, nicht in Museen. Also dort auch, aber nicht ganz so, um es einmal salopp zu formulieren.
Der Weg wurde auch schwieriger, das Geröll unter mir wirkte nicht gerade standfest. Wieder dachte ich daran, dass es besser gewesen wäre, hätte ich meine Wanderschuhe angezogen. Ich hatte sie noch nie an auf dieser Reise, nur beim Flug. Ziemlich blöd, finde ich. Aber ich habe sie bislang noch nicht dringend gebraucht. Nur halb-dringend.
Nachdem ich eine Zeitlang immer höher gestiegen war, musste ich bald wieder nach unten. Ein einsamer Kieselstrand lag vor mir. Mit einer Kapelle in der Mitte. Was wäre das für ein fantastischer Ort zum Zelten, dachte ich mir. Auf der anderen Seite aber liegt er direkt an einem Wanderweg. Denn es ist einer, der auch halbwegs markiert ist, mit roten Klecksen an wichtigen Stellen und aufgetürmten Steinhaufen, die andere Wanderer zur Markierung aufgeschichtet haben. Nachdem ich den Strand passiert hatte, musste ich wieder hoch. Es war vielleicht der anspruchsvollste Teil der Wanderung. Als ich den Felsen erreicht hatte, erblickte ich mein Ziel. Also es wurde zu einem Ziel, denn ich wusste vorher nicht unbedingt, wo ich hinwollte. Aber die kleine Siedlung Paralia unter mir schien wie geschaffen dazu, als solches zu dienen.
Der Abstieg erwies sich dann auch als nicht gerade einfach. Wieder kam ich an einer Kapelle vorbei, Agia Marina, die sogar als antikes Bauwerk ausgeschildert war. Als ich drinnen warm, merkte ich auch warum. Herrliche Fresken aus byzantinischer Zeit waren zu sehen. Zumindest die Überreste davon. Mistras kam mir in den Sinn. Ich bin kein Experte, aber sicher sind sie aus derselben Zeit. Was für ein Kleinod, hier, fast in der Mitte vom Nirgendwo.
Irgendwann fand ich den Abstieg zum Meer. Ich hätte auch der Straße folgen können, aber es gibt einen steilen Fußweg.
Wie es oft ist bei Wanderungen: Die Wanderung selbst ist das Ziel. Nicht das Ziel selber.
Ich kam an diesem winzigen Ort Paralia an, es gab sogar eine Taverne. Aber ich verspürte keine Lust darauf einzukehren. Stattdessen setzte ich mich an den von Felsen zerklüfteten Strand und genoss das frische Brot von heute Morgen und eine Orange, die ich vor ein paar Tagen in Chania gekauft hatte. Es reicht vollkommen, außerdem hatte ich die beste Aussicht auf das nicht mehr ganz so wilde Meer und war geschützt, weil Bambuspflanzen mir Schatten spendeten. Manche Dinge braucht man nicht zu kaufen. Oder zu mieten. Die gibt es gratis, wenn man bereit ist, den Weg dorthin auf sich zu nehmen.
Dann, als ich mich eine halbe Stunde ausgeruht hatte, machte ich mich auf den Rückweg. Vielleicht hätte ich in der Taverne einen Kaffee trinken sollen, denn ich spürte bald eine gewisse Müdigkeit. Vor allem in den Beinen. Es ist aber anders als beim Radfahren, vielleicht sind andere Muskeln involviert. Der Rückweg dauerte jedenfalls gefühlt weniger lang, was aber daran liegen kann, dass ich ihn bereits kannte. Ich war sicher ebenso lang unterwegs, vielleicht mit weniger Fotopausen.
Gegen halb vier war ich wieder am Campingplatz, dort konnte ich endlich den Kaffee trinken, den ich wirklich brauchte. Und dann? Ja, dann setzte ich mich ans Zelt und begann, das hier zu schreiben. Es ist jetzt schon halb sechs. Also etwas später.
Ich mache mir Gedanken um meine Weiterreise. Paleochora soll es sein. Endlich an die Südküste.
Morgen bin ich vier Wochen unterwegs. Es fühlt sich nicht so an.
Und trotzdem wie eine kleine Ewigkeit. Eigenartig.
Ich habe jedenfalls das Gefühl, durchaus noch sechs Wochen unterwegs sein zu können. Vielleicht habe ich wirklich noch immer Reisefieber, bin noch nicht wieder ausgelastet. Aber mal sehen, wie das in einer Woche aussieht. Manchmal geht es schnell mit dem Gefühl, dass ich wieder nach Hause will.
Aber es ist anders als vor der Pandemie. Trotzdem, das Reisen ist so erfüllend wie eh und je. Und das ist gut so.
Morgen werde ich definitiv nicht so viel machen. Vielleicht laufe ich mal am Strand entlang nach Kissamos. Es sind ca. vier Kilometer. Und dann werden wir sehen.