Narbonne und Gruissan
Gestern habe ich noch einen langen Spaziergang gemacht, um mir die Gegend etwas näher anzuschauen. Ich erinnerte mich dunkel daran, auf der Fahrt hierher so etwas wie eine Burgruine gesehen zu haben, auch wenn ich nicht sagen konnte, ob diese zu diesem Ort gehörte oder weiter weg war. Sie war es nicht. Ich lief in Gruissan erst an den endlosen Reihen der Boote und Jachten vorbei, die ich im Stillen bewunderte. Das wäre der nächste Schritt. Nicht etwa eines dieser Ungetüme, die andere als Wohnmobile bezeichnen. Nein, es sind diese Boote, die ein völlig anderes Element erkunden können, eines, dass ich bislang nicht kennengelernt habe und von dem ich auch nicht weiß, ob meine Kunst mir jemals genug einbringen wird, um auch diesen Teil des Lebens erkunden zu können. Vielleicht mache ich es erst einmal anders, noch nicht mit ganz so viel Leidenschaft, man muss ja nicht sofort ein Boot besitzen. Doch auch so etwas wie eine private Kreuzfahrt scheint mir zurzeit weit über meinen Möglichkeiten. Wir werden sehen, wenn das Leben mir die Chance gibt, dann ist es gut, wenn nicht, dann auch.
Der Ort machte auf mich einen völlig modernen Eindruck, alle Gebäude waren nagelneu, um den Hafen herum angeordnet, der wirklich riesig ist. Dass es noch ein anderes Gruissan gibt, merkte ich erst später. Völlig abrupt hörten die modernen Bauten auf und die alten erhoben sich wie aus dem Nichts. Ein altes Fischerdorf, voller Charme, das sich wie ein Wirbelsturm um den Burgberg samt Ruine gelegt hat. Mit faszinierenden kleinen Gässchen, das Meer immer in Reichweite, liegt das alte Gruissan auf einer Halbinsel zum Glück unberührt von den modernen Gebäuden. Fast ein kleines Wunder, doch finde ich es sehr gelungen, denn sowohl den heutigen Ansprüchen wird Genüge getan als auch die Tradition geehrt. Es geht doch. Ich erklomm auch den Berg, kein besonders weiter Weg, doch vom Turm mit dem Namen des türkischen Freibeuters Barbarossa aus – der ist gemeint, nicht der berühmteste deutsche Kaiser – hat man eine fantastische Sicht auf die Bucht und das Fischerdorf. Die kleine Hauptstraße bemerkte ich erst von dort oben, die schlenderte ich später entlang. Hier sah ich kaum noch Touristen, nur kleine Tavernen mit allerhand Franzosen gefüllt. Ich würde es jederzeit vorziehen, hier Essen zu gehen als am Hafen mit den charakterlosen Restaurants. Doch das ist im Moment utopisch, vielleicht wenn Nina da ist und wir uns die Lebenskosten teilen können, die für einen wie für zwei genau gleich sind.
Die Nacht war ein wenig schwieriger, vielleicht weil es meine erste in Frankreich war, vielleicht, weil der Platz doch im Grunde ganz anders war als die sonstigen Campingplätze. Freie Flächen, statt bewachsene, keine Parzellen oder ähnlicher Schnick-Schnack, aber auch keine Gelegenheiten abzuwaschen, was mir erst am Morgen aufgefallen ist.
Höchstwahrscheinlich lag die schlechte Nacht jedoch am Wetterumschwung. Gestern noch sonnig und warm, heute diesig und feucht. In der Ferne lag Nebel über dem Ort und es war fast ein wenig kalt. Solch ein Wetter veranlasst mich immer, darüber nachzudenken, ob ich nicht weiterfahren sollte. Ich widerstand diesem Drang, las ein wenig, plante meine Weiterreise ohne mir Aufzeichnungen zu machen, was immer darin endet, dass ich es eigentlich lassen könnte, da ich alles innerhalb kürzester Zeit vergesse. Um 10 Uhr hatte sich das Wetter zumindest insofern gebessert, als dass Regen unwahrscheinlich schien. Also schnallte ich mein Rad ab und machte mich auf den Weg nach Narbonne, ca. 15 Kilometer entfernt. Es war eine sehr angenehme Tour, die in allen Belangen meiner Kondition entsprach. Auf Radwegen und winzigen Landstraßen ging es entlang, kaum gestört durch Autofahrer. Bereits nach kurzer Zeit hielt ich an, weil mir der Blick auf die Burgruine von gestern so gut gefiel. Es war immer noch ein wenig neblig und dort lag sie, mitten in einer Wolke, die sie nicht ganz verdeckte. Der Anblick erinnerte mich an einen Ort, der genau entgegengesetzt auf der anderen Seite des Kontinents liegt, Schottland. Castle Eilean sah ähnlich aus wie der Blick, der sich mir jetzt bot. Wie ein Blitz kamen die Erinnerungen an meine – zu meiner Schande – einzige Fahrt nach Schottland vor ganz genau vier Jahren. Damals lief die Fußball-WM bereits, dieses Jahr beginnt sie erst am Freitag oder Samstag. Unsere Reise war damals eine verflucht schottische Angelegenheit, nämlich völlig verregnet. Ich weiß noch, wir hielten uns in Fort Williams aus und konnten den höchsten Berg Schottlands Ben Nevis wegen dichtem Nebel nicht sehen. Gibt es so etwas? Ja natürlich.
Jedenfalls erfreute mich der Blick auf den Turm Barbarossa, denn er versetzte mich zurück in eine Zeit, in der ich mich einem Land zugehörig gefühlt habe. Aber das musste eines Tages enden, denn nichts ist schlimmer, als seinen Horizont nicht zu erweitern und seine Fühler nicht auch in andere Länder auszustrecken.
Wo man gedanklich überall landen kann, wenn man nur eine Fahrradtour macht….
Jedenfalls war es eine schöne Route, es gab keine nennenswerten Steigungen, sondern der Weg führte völlig flach auf Narbonne zu, dessen Kathedrale ich von der Ferne aus bereits sehen konnte. Es ist eine echte, französische Stadt, und wenn Perpignan gestern noch einen Hauch spanisch wirkte, in Narbonne ist davon nichts mehr zu spüren. Überhaupt erweckte es für mich nicht den Anschein, als wäre es eine mediterrane Stadt, die Häuser hätten auch in Paris oder der Bretagne stehen können, ehrwürdige, logische Gebäude aus dem 18. oder 19.Jahrhundert aus festen Steinen mit den typisch hohen Dächern, die doch noch oben abflachen. Wie oft in Frankreich, fiel mir die hübsche Ufertrasse des Flusses auf. Diese war höchst geschmackvoll gestaltet, geschmackvoll bepflanzt und sehr gepflegt. Wie in Florenz die Ponte Vecchio führte auch hier eine Brücke über den Fluss, die bebaut war. Der Platz vor dem Hotel de Ville ist das eindeutige Zentrum der Stadt, erhaben und beeindrucken. Da heute Dienstag war, war so ziemlich alles geschlossen bis auf die Kathedrale. Deshalb machte ich eine Ausnahme und besichtigte sie. Es war eine gute Entscheidung, denn ich begann meinen Rundgang im Klostergarten. Er ist wundervoll verwittert, in der Mitte mit Blumen und einer Palme bepflanzt. Besonders gefielen mir die Wasserspeier, groteske Drachenwesen, denen man den Zahn der Zeit bereits ansieht. Hier endlich bekam ich Inspiration für meinen gotischen Roman, etwas, das ich auch in Barcelona gefunden hatte.
Die Kathedrale selbst ist sehenswert, ein hoher Bau mit vielen Fenstern, der so düster ist, dass es mich verwunderte. Meist sind gotische Kathedralen wesentlich heller, eben wegen der großen Fenster, die im Gegensatz zu romanischen Bauten hier möglich sind, weil die Wände nicht als Träger des Daches dienen. Vielleicht hatte das Gebäude deshalb eine Art mystische Wirkung auf mich, die ich schon längst verloren glaubte. So aber bereute ich meinen Besuch nicht. Leider wurden wir dann sehr schnell hinauskomplimentiert. Es war zwölf Uhr und die Herren und Damen Wächter wollten lunchen. Das konnte ich verstehen und gönnte mir ebenfalls ein Baguette-Sandwich. Danach schrieb ich lange in einem Café, das direkt am Hauptplatz lag. Leider gibt der Akku meines Netbooks langsam den Geist auf und ich muss wirklich überlegen, was ich dagegen tue. Meine besten Worte finde ich, wenn ich unterwegs bin. Eine Steckdose gibt es nicht überall und wenn, kann ich mich davon nicht abhängig machen. Es gibt zur Zeit nur zwei Varianten, entweder einen neuen Akku oder ein neues Netbook. Die Kosten dafür liegen ca. im Verhältnis 1/2,5, also eine verzwickte Entscheidung. Ich werde einige Nächte darüber schlafen. Noch hält das Ding etwas über eine Stunde, was nicht sehr viel für mich ist. (Anmerkung 18 Monate später: Der Akku hielt, machte nur bei Feuchtigkeit Probleme. Die erlebte ich nicht mehr, so dass ich erst jetzt, da ich wieder in Berlin weile, ein neues Netbook gekauft habe).
Nach der Session wanderte ich noch durch die Stadt, das Zentrum ist wirklich kompakt. Ich entdeckte Les Halles, die mir vorher entgangen waren. Leider war der Markt bereits vorbei, bis 13 Uhr hätte ich noch einkaufen oder zumindest die Atmosphäre hier genießen können. Erst sämtliche Objekte geschlossen, jetzt auch noch die Öffnungszeit verpennt – es war nicht mein Tag. Aber die echte Sehenswürdigkeit ist immer der Ort selbst, und Narbonne hat sogar an einem feuchten Tag jede Menge Ausstrahlung, die man aufsaugen und sich daran erfreuen kann.
Bald darauf machte ich mich auf den Heimweg, merkte zum Schluss der Tour, dass ich meine natürlichen Grenzen das Fahrradfahren betreffend erreichte, kam aber noch mit genug Energie an, um dieses Journal weiterzuführen. Vielleicht wandere ich heute nochmals durch das Fischerdorf Gruissan, entzückend genug ist es ja. Auch wenn das Wetter den Anschein erweckt, wieder zum Schlechten umzuschlagen.
Morgen jedenfalls fahre ich weiter, Montpellier liegt auf der Strecke, danach werde ich langsam darüber nachdenken, wie und wann ich am besten nach Nizza fahre, denn in wenigen Tagen kommt Nina. Und der Camper sieht schlimm aus, er spottet jeder Beschreibung.
Also noch genug zu tun.