Fahrt nach Sarajevo

Ein typischer Reisetag. Ich hatte die Auswahl zwischen dem kleinen Ort, dessen Namen ich vergessen habe und der Hauptstadt. Ich brauchte nicht lange, um mich zu entscheiden: Es sollte Sarajevo werden. Ungefähr 150 Kilometer lag die größte Stadt Bosniens entfernt, auf Landstraßen also immerhin einige Stunden Fahrt. Es ist eine lohnende Strecke, denn die Landschaft hier ist einfach herrlich: geografisch interessant, weil hügelig/bergig, dicht bewaldet ohne die Narben der Skiindustrie. Für einen Moment war ich versucht, in der kleineren Stadt Travnik zu halten. Wenn der Campingplatz eine Spur besser ausgeschildert gewesen wäre, hätte es ein lohnender Zwischenstopp werden können. So aber fuhr ich vorbei, kam dann bald auf das erste Stück Autobahn, das natürlich einmal wieder mit einer Maut belegt war. Letztlich setzt sich diese Raubrittermethode in allen Ländern Europas durch, nur noch Deutschland und England – von einer winzigen Strecke um Birmingham einmal abgesehen – bilden noch immer die glorreiche Ausnahme. Wenn die Einnahmen wenigstens für die öffentlichen Verkehrsmittel verwendet würden, wenn es also eine Umverteilung wäre zwischen Individual- und öffentlichem Verkehr mit dem Ziel, zweiteren als Alternative für diejenigen Menschen günstig zu gestalten, die nicht zu den Gewinnern der kapitalistischen Gesellschaft zählen, könnte ich es ja verstehen. Aber nichts da, es sind private Projekte mit dem Ziel, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Kann ich so also nicht unterstützen.

Der Stau begann kurz vor Sarajevo, viele Kilometer schleppten wir uns in Schrittgeschwindigkeit voran. Es ging vorbei an vielen chinesischen Läden, in denen billige Kleidungsstücke aus Asien angeboten wurden, dicht an dicht drängten sich die Geschäfte. Die Stadt selbst kam irgendwann in Sicht, gigantisch sah sie aus, nach der langen Strecke durch beinahe unbesiedelte Gebiete klemmten sich Häuser beinahe eifersüchtig nach Platz und Geltung an die Hügel. Nachdem ich auf dem Platz angekommen war, ruhte ich erst einmal aus, jetzt, drei Stunden später, bin ich immer noch dabei. Ich habe Sarajevo heute also nicht gesehen. Auch habe ich noch nicht geschrieben. Es ist merkwürdig, sobald ich etwas nachlasse, bricht gleich meine gesamte Disziplin ein. Allerdings gebe ich noch nicht auf, dann arbeite ich eben etwas später. Zum Sightseeing komme ich nicht, das hat bis morgen Zeit.

Allerdings hatte ich andere Erlebnisse. Gestern beschrieb ich meinen Ansatz, Menschen aus meiner Vergangenheit, die es wagen, sich noch immer in meiner Gegenwart zu tummeln, auf eine Wolke gesetzt zu haben. Das funktioniert sehr gut, immer mehr Menschen aus der alten Firma setze ich darauf. Faszinierend ist es allerdings, dass plötzlich ganz andere Menschen, die noch viel weiter entfernt sind, diese Lücke versuchen zu füllen. Erlebnisse von vor vielen Jahren kommen wieder hoch, als wären sie unter der Schicht neuer Ereignisse verschüttet worden, nun aber wieder an der Oberfläche. Also füllte ich wieder Wolken, setzte Leute darauf. Manche aber ließ ich erst einmal da, denn es war faszinierend, wie weit meine Erinnerungen plötzlich zurückgingen. Manchmal zehn Jahre oder mehr, ich möchte eigentlich gar nicht wissen, was ich für einen Rucksack an unerledigten Dingen mit mir herumtrage. Es ist ziemlich müßig, denn selbst wenn ich etwas in der Vergangenheit versäumt habe, löse ich nichts, in dem ich darin herumstochere. Das Leben wird mir schon wieder die Möglichkeit in die Hände spielen, um mir zu zeigen, ob ich gelernt habe oder nicht. Also greife ich weiter auf die Wolken zurück, die inzwischen schon ziemlich zahlreich geworden sind. Da winken mir allerhand Menschen zu, mysteriöse Gestalten, die ganz sicher heute nicht mehr so aussehen wie damals, als sie sich in mein Gedächtnis brannten. Sie sind nicht echt, alle nur Auswüchse meiner lebhaften Fantasie und doch waren sie zu ihrer Zeit einmal wichtig. Doch jetzt ist Schluss damit. Sie haben lange genug meine Zeit in Anspruch genommen, mich lange genug bestimmt.
Es ist wirklich merkwürdig und es wird mir auch kein Mensch glauben, aber ich bin körperlich leichter dadurch. Es ist, als wären all die Dinge, die mich in den letzten Jahren aufgebläht haben, mit einem Mal verschwunden. Das hat auch Einfluss auf meine Laune, denn es hat mir vor allem bei einem geholfen: beim Glücklichsein. Misstrauisch wie ich bin traue ich dem Frieden natürlich nicht. Ich werde beobachten, wie es wird. Auch weiß ich, dass ich nicht nachlassen darf, aufmerksam zu sein, denn die Geister versuchen immer wieder, selbst aus großen Höhen von den Wolken zu springen, um wieder in meinem Bewusstsein zu landen. Ich setze sie aber immer wieder auf die Luftmassen, die bislang immer noch alle in Sichtweite sind, denn es ist gar nicht so leicht, sie wirklich fliegen zu lassen. Ich muss nur warten, denn der Wind wird die Sache für mich erledigen, wenn die Stürme der Zeit über mich hinweg fegen, werden sie auch die Wolken mit sich tragen.

So habe ich meine Reise also doch fortgesetzt, die Sightseeing-Objekte waren in den letzten beiden Tagen nur andere. Es waren anscheinend längst notwendige Schritte, denn nur ein Mensch, der mit seiner Vergangenheit im Reinen ist, kann sich unbeschwert der Gegenwart widmen. Und das war ein riesiger Schritt. Mal sehen, was mir noch alles vor mein geistiges Auge läuft, wie weit die Geister zurückgehen, die es immer noch wagen, mich bestimmen zu wollen. Wolken habe ich noch jede Menge, macht Euch auf etwas gefasst..