Dubrovnik

Irgendetwas ist anders, hat sich verändert. Ich begann vor ca. 20 Jahren mit der Art zu reisen, die ich im Allgemeinen noch heute so ausführe. Doch ganz so wie vor diesen Jahrzehnten ist es nicht, das merkte ich heute in Dubrovnik, das ganz sicher touristisch auf einer Stufe mit Florenz oder Venedig steht. Ich meine etwas anderes. Vor 20 Jahren hätte ich niemals einen Tag gewartet, ich wäre sofort für eine erste Stippvisite nach Dubrovnik gefahren. Meine Nervosität wäre viel zu groß gewesen, mein Heißhunger unersättlich. Das hat sich verändert, es scheint fast als wäre ich satt. Ich weiß noch nicht mit dieser Erkenntnis umzugehen, aber etwas muss sie bedeuten.
Das ist allerdings nicht das Einzige. Ich hatte früher die Fähigkeit, stressige Umgebungen einfach auszublenden. Wenn die Massen zu groß wurden, ignorierte ich sie einfach, was mir mit Ausnahme von Venedig in der Hauptsaison und auch nur in einigen Teilen davon, immer gelang. Diese Fähigkeit habe ich fast eingebüßt, denn heute sehe ich sie, die Massen, die sich in die Altstadt Dubrovniks ergossen. Vielleicht hängen die beiden „Entwicklungen“ miteinander zusammen, vielleicht bin ich etwas gelassener und auch kritischer geworden. Denn was ich heute erlebte, empfand ich bei Weitem nicht als den Höhepunkt, der Dubrovnik eigentlich hätte sein müssen. Relativ zeitig, auch wenn ich sehr trödelte, nahm ich den Bus von Mlini, kurz nach Zehn erreichte ich Dubrovnik. Aus der Entfernung jedenfalls sieht die Stadt beeindruckend aus, die mächtigen Mauern und Türme haben sogar die serbische Armee in den Neunzigern lange genug aufgehalten, um es der Verstärkungsarmee zu ermöglichen, rechtzeitig aufzutauchen, die die Belagerung dann beendete. Relativ kompakt lag sie da, von oben sah sie mächtig aus, einmalig, malerisch. Wir wurden etwas außerhalb des Zentrums ausgespuckt, mussten noch einige Meter laufen. Als Erstes bekam ich ein gewaltiges Stadttor zu Gesicht, die Brücke war bereits voll mit Menschen, die sich Zugang zur Stadt verschaffen wollten. Ich blieb für einige Minuten auf dem Geländer der Brücke sitzen, betrachtete die Szenen. In aller Ruhe bewegten sich die Massen, geduldig wie Schafe, um durch das enge Nadelöhr zu schlüpfen. Ich derweil betrachtete das Tor und die Stadtmauer. Mir fiel eine Skulptur auf, relativ klein, die über dem Eingang angebracht war. Drei Köpfe in einem, zwei Frauen- und ein Männerkopf. Ich musste an eine Szene in Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“ denken, ein unbekannter Künstler schafft ein Kunstwerk, eine Skulptur, ich glaube, es war auch ein Kopf, die in irgendeiner Kirche angebracht ist. Kaum jemand sieht sie, Goldmund aber schon, der, weil er so fasziniert ist von dem Kunstwerk, daraufhin mehrere Jahre bei einem Steinmetz in die Lehre geht, aber aufhört, nachdem er ein Kunstwerk, eine Statue seines Freundes Narziss, geschaffen hat. Hier war es ähnlich, niemand sah die kleine Skulptur, die unter einem Wappen beinahe verloren geht. Ich schon und ich bewunderte sie, denn jedes Gesicht war anders, zeigte einen anderen Gemütszustand, bewegte mich auf eine andere Art. Es sind oft die winzigsten Dinge, die mich mittlerweile stundenlang beschäftigen können, interessante Gedanken oder kleine Kunstwerke, die von der Allgemeinheit völlig übersehen werden, die dem Hype der jeweils in Mode gekommenen Künstler folgt. Nicht, dass die etwas dafür können, denn die sind meist schon lange tot. Trotzdem, ein scharfer Blick kann Wunder wirken, man kann wesentlich mehr sehen als andere, wenn man nur die Augen aufmacht.

Irgendwann war der Strom etwas abgeflaut, so dass ich es ebenfalls wagte, hineinzugehen. Mein erster Gedanke, den ich hatte: St Malo. Dubrovnik erinnerte mich an die prächtige bretonische Stadt an der Cote d’Amour, auf der anderen Seite Europas. Prächtige Bauten, ich glaube aus dem 17. Jahrhundert, im Schachbrettmuster angelegt, gaben den Blick auf einen breiten Boulevard frei. Der war leider ausgesprochen angefüllt, dicht gedrängt bewegten wir und alle.
Sollte ich für einen Moment darüber nachgedacht haben, den astronomischen Preis von 70 Kuna, ca. 10 Euro, zu bezahlen, um auf der Mauer spazieren zu dürfen, reichte ein Blick, um mich an meinen viel zu entwickelten Geiz zu erinnern. Dort schritten sie lang, die Touristen, langsam, einer nach dem anderen wie Sträflinge, die eine Stunde lang Ausgang haben. Stehenbleiben wurde mit sofortigem Stau und sicher einer gehörigen Portion Unmut bestraft. Also klappt die Regulierung durch den Preis noch nicht, der muss noch viel höher sein, um regulierend zu wirken. Wie gesagt, mich reizte es nicht, obwohl die Aussicht – wie in St Malo – sicher spektakulär ist.
Stattdessen wanderte ich den Boulevard entlang, immer in Richtung Uhrenturm. Wenn es nicht so voll wäre, hätte Dubrovnik eine wundervolle Atmosphäre. Nach kurzem Schlendern hatte ich den Hafen erreicht, dort konnte ich ein riesiges Kreuzfahrtschiff und viele Jachten bewundern. Kein Wunder, dass es so voll war, denn alle erdenklichen Verkehrsmittel treffen hier aufeinander: Straße, Luft, Wasser. Der Flughafen ist ebenfalls nicht weit entfernt, Easyjet fliegt auch schon.
Überall sind Restaurants und Cafés. Nachdem ich einige Zeit gewandert war, bemerkte ich die ersten Tropfen. Ich setzte mich also ins nächstbeste Café und las im Rough Guide über Dubrovnik und Umgebung. Hier erlebte ich die Stadt, wie man sie erleben soll. Sicher an die anderthalb Stunden saß ich dort, schaute mir die Menschen an, die vorbei liefen. Sehen und Gesehen werden, das beschreibt selbst der Autor in meinem Lieblingsreiseführer. Trotz der kleinen Schauer gab es genug zu entdecken. Langsam wird das ein echtes Hobby.

Als es endgültig aufgehört hatte zu regnen und ich grimmige Blicke vom Kellner erntete, weil ich den Tisch so lange besetzt gehalten hatte, lief ich weiter. Ich merkte, dass, sobald man sich von den beiden Hauptstraßen entfernt, das Gedränge beinahe aufhört. Die Stadt liegt in einer Art Tal, so dass ich zu beiden Seiten der Straßen aufsteigen konnte. Hier war es wesentlich ruhiger und ich konnte die Architektur, ca. 300 Jahre alt, gut bürgerlich, eine Spur rustikal, da Naturstein, bewundern. Da Dubrovnik in den Neunzigern ebenfalls belagert wurde und mindestens ein halbes Jahr unter starkem Beschuss stand, sind viele der Gebäude beschädigt oder zerstört worden. Allerdings ist der einzige Umstand, weswegen ich es bemerkte die Tatsache, dass jedes Haus perfekt restauriert ist. Ansonsten sind keine Kriegsschäden mehr zu sehen. Schade eigentlich, dass Restaurateure keinen Wert darauf legen, historische Gebäude auch alt aussehen zu lassen. Stattdessen sieht alles so sauber und perfekt aus als wäre es auf alt gemacht gebaut worden. Keine Patina, kein Charisma. Es ist ganz einfach.

Nach einigen Stunden hatte ich genug, denn wenn ich gedacht hatte, dass es bereits am Morgen voll war, hatte ich die Massen am Nachmittag noch nicht gesehen. Ab einem Punkt kam ich gar nicht mehr voran, also war es Zeit abzufahren.
Das Gute an einem perfekten Touristenort sind die öffentlichen Verkehsmittel. Ich wartete nur zwei Minuten, dann kam der Bus, der mich wieder nach Mlini brachte. Dort lief ich nochmals zum Strand, arbeitete in einem Café an dem Roman, der nun bald in den letzten Zügen liegt, und erfreute mich der Ruhe. Hier in Mlini/Kupari sah ich mehrere völlig ruinöse Gebäude, die einst große Hotelanlagen gewesen sein müssen. Ich las im Rough Guide, dass das einst Urlaubsdomizile der jugoslawischen Armee waren, die jetzt verfallen. Hässlich sind sie schon, sicher asbestverseuchte 50er-Jahre-Gebäude, die einen Touch von Erichs Lampenladen haben. Der ist weg, hier rotten die Dinger vor sich hin, obwohl die scheibenlosen Ruinen auch ihren Charme haben. Die Natur holt sich übrigens zurück, was sie einst aufgeben musste. Bald wird zumindest das Gebäude in der Nähe des Campingplatzes mit Efeu bedeckt sein.
Nicht mehr lange und mein kroatisches Abenteuer geht zu Ende. Morgen bleibe ich noch, dann ruft Montenegro.