Ulcinj

So, geschafft. Der Reinickendorfer Rezeptionist des Campingplatzes, ein wirklich mit allen Wassern gewaschener Berliner aus dem harten Norden der Stadt, empfahl mir, einen fünf Kilometer langen Spaziergang am Strand entlang, um nach Ulcinj zu gelangen. Schon beim Start kam es mir eigenartig vor, denn ich sah, wo der Strand endete und schätze die Entfernung auf eher zwei Kilometer ein. Nichtsdestotrotz machte ich mich gut gelaunt auf den Weg. Um neun war es schön ruhig, kaum jemand genoss die Stille vor dem Sturm, der erst viel später losbrechen sollte. Ich war sogar versucht, mich in eines der vielen Strandcafés hier zu setzen, doch am Ende wollte ich recht schnell in die Stadt kommen. Das gelang mir nicht. Nach zwei Kilometern erreichte ich wirklich die Klippen, der Strand war zu Ende, doch von Ulcinj sah ich noch nichts. Also lief ich weiter, Kilometer um Kilometer an einer befahrenen Straße entlang. Beinahe beobachtete ich den Freitod eines Streuners, der schwankend mal auf dem Gehsteig, mal auf der Fahrbahn torkelte. Irgendwann überholte ich ihn, weil er kurz im Gebüsch verschwunden war, doch dauerte es keine Minute, dann passierte er mich wieder. Er ließ auch nicht mit sich reden, Autos bremsten für ihn, wenn er mal wieder meinte, die Straße markieren zu müssen. Ich hoffe, der kleine Kerl lernt es, mit dem Verkehr hier umzugehen, sonst sehe ich keine lebendige Zukunft für ihn. Nach etwa fünf Kilometern hatte ich die Stadt erreicht, aber nur die Außenbezirke. Sicher waren es nochmals drei bis vier Kilometer, um zur Altstadt zu gelangen. Typisch Berliner, ich bereute bitter, dass ich nicht das Rad genommen hatte, denn das Laufen neben dieser Straße, an vielen stinkenden Müllhaufen und Autowracks vorbei, erfreute mich nicht wirklich. Nachdem ich mich auch noch verlaufen hatte, kam ich nach ungefähr zwei Stunden am Strand der Stadt an, ein völlig überfülltes Etwas, das am Meer lag. Sand konnte ich keinen erkennen, dafür eine Menge roter Sonnenschirme und Leiber dicht an dicht gedrängt. Macht so etwas wirklich Spaß?

Die Altstadt betrat ich durch eines der Tore des alten Kastells. Sie muss beim Erdbeben 1979 sehr gelitten haben, denn noch nicht alle Gebäude sind wieder aufgebaut. Das Ganze wirkte etwas seelenlos auf mich, viele Restaurants in neu renovierten Häusern ließen kein echtes Flair aufkommen. Aber vielleicht bin ich auch schon zu verwöhnt. Außerhalb eines Cafés setzte ich mich auf die Stufen, die der Besitzer mit Kissen bedeckt hatte. Leider gab es kein fließend Wasser, so dass ich keinen Kaffee bekam. So etwas Ärgerliches. Trotzdem blieb ich, denn der Ausblick auf das Meer und die Bucht war malerisch und hier im Schatten eines Hauses auf den Stufen weich gepolstert zu sitzen war auch etwas neues. Ich schrieb am Roman, wobei ich bemerkte, dass mich die laute Techno-Musik im Hintergrund behindert. Man muss ja alles einmal ausprobieren.

Im Rough Guide hatte ich von einem Museum gelesen, dass ich nicht sofort fand. Erst als ich die Stadt beinahe ganz erkundet hatte, sah ich ein Schild beim Ausgang. Den einen Euro zahlte ich gerne, schon wegen des Settings. Das Museum ist auf dem ehemaligen Sklavenmarkt der Stadt untergebracht. Die alten Gitter sind noch da, die die runden Kerker versperren. Heute sind hier Ausstellungsgegenstände wie Kapitelle oder islamische Grabsteine zu sehen. Früher waren es Schwarze, die verkauft wurden. Es ist ein beklemmendes Gefühl, sich die Freiheit eines anderen Menschen einfach zu erkaufen. Da gehen Menschen heute schon pfiffiger vor. Heute kontrollieren die Mächtigen die Einfachen über die Schulden. Wer sich ein Haus baut oder eine Wohnung kauft, darf seinen Job nicht verlieren, muss also kuschen und gehorchen. Genauso ist es mit Krediten für Autos oder Küchen, LCD-Fernseher oder sonst etwas. Je größer die Schulden, desto unfreier die Menschen. Man stelle sich vor, die Leute würden gleich kündigen, wenn sie im Job schlecht behandelt würden. Wo kämen wir denn da hin? Unser Wirtschaftssystem würde implodieren. Also weiter, Schulden machen, dann kann nichts passieren.
Hier allerdings nur den Schwarzen Peter auf diejenigen zu schieben, die ein Produkt, in diesem Fall Geld, zu liefern, ist natürlich einseitig. Jeder hat die Wahl, an diesem System teilzunehmen. Man muss es ja nicht, kann Fahrrad fahren, zur Miete wohnen und lebt letztlich auch nicht schlechter. Allerdings steht dann das System als Ganzes infrage. Wenn nämlich jeder das so machen würde (wie ich), dann bräche es zusammen. Nur der Konsum zählt und hält diese Welt am Laufen. Pervers, oder?
Das Ganze funktioniert natürlich auch mit den Mächtigen selbst, man sieht es ja an der „Bankenkrise“. Die Staaten, die jetzt einen Weg finden sollen, die Finanzwelt zu kontrollieren, sind alle hoch verschuldet. Bei wem? Bei der Finanzwelt, die damit natürlich Bedingungen stellt. Ein perverses System.

Alles sicher noch kein Vergleich mit der Perversität, Menschen ihrer Freiheit zu berauben, um sie in einem anderen Kontinent zu Tode schuften zu lassen. Wie gesagt, die Gitter sprechen noch heute eine eindrucksvolle Sprache.
Das Museum selbst ist höchst langweilig, um es einmal deutlich zu sagen. Sehenswert nur sind vielleicht die Zeichnungen von Schiffen im Gebäude vor dem Museum. Und auch nur deshalb, weil sie aller Voraussicht nach von Piraten angefertigt wurden. Die kannten sich nicht besonders gut aus mit der Darstellung des Perspektivischen, daher machten sie es wie Picasso, zeigten also mehrere Ansichten in einem Bild. Nur hat Picasso daraus eine Kunstrichtung erschaffen, die Piraten nicht. Man braucht manchmal etwas Glück bei seiner Kunst.
Damit war ich eigentlich schon am Ende meiner Tour. Ich lief noch durch die moderne Stadt, aß einen Hühnchen-Döner, der nicht schlecht war, sucht vergeblich nach einem Café mit Wifi, also war ich gezwungen, in ein Internetcafé zu gehen. Es ging nur um die Vorbereitungen für meine sicher kurze Tour durch Albanien. Da es nicht viele Campingplätze gibt, werde ich mich mit den Dreien, die ich gefunden habe, zufrieden geben müssen. Aber letztlich freue ich mich schon sehr auf Griechenland. Endlich werde ich Orte sehen, die ich bislang nur aus den Sagen und der Geschichte kenne, denn das Land kenne ich fast gar nicht, von Athen einmal abgesehen. Aber ich greife vor, denn erst steht Morgen die Einreise in ein anderes Land.
Vor Albanien habe ich etwas Respekt, bin mir nicht sicher, was mich erwartet. Morgen um diese Zeit werde ich es wissen.