Lixus & Moulay-Bousselham

Es war eine recht ruhige Nacht, trotz des Straßenlärms, von dem ich mich nicht stören ließ. Erst gegen 8 Uhr wachte ich auf und hatte ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich es für recht spät hielt. Ich machte mich schnell fertig, schnallte erneut mein Fahrrad ab und machte mich auf den Weg. Lange hatte ich gestern darüber nachgedacht, ob ich die Ruinen von Lixus alleine besuchen sollte. Mein gestriger Gesprächspartner hatte davon abgeraten, weil sich seiner Meinung nach allerhand Gesinde dort aufhalten soll. Ich konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, obwohl ich sonst auf den Rat von Einheimischen höre. Eine alte römische Stadt, die ohne Zäune und mit freiem Zugang ca. 4 Kilometer von Larache liegt und die ich gestern beim Vorbeifahren bereits gesehen hatte. Die Strecke dorthin erwies sich als schwierig, nicht, dass die Straßen schlecht gewesen wären, sondern weil viele LKWs unterwegs waren. Immer, wenn mich einer überholte, erschreckte er mich. Dass er mir auch die stinkenden Abgase ins Gesicht blies, kam noch hinzu. Diesbezüglich ändert sich meine Einstellung zur Berliner Umweltzone langsam, denn Stinker wie diese dürfen dort eben nicht mehr fahren. Ich schaffte es schließlich, verfluchte meine Faulheit im Winter, mich fit zu halten, denn die recht kurze Strecke ließ meine Oberschenkel brennen wie Feuer, mein Atem ging schnell und schwer.
Einige Bauarbeiter arbeiteten in einiger Entfernung zur Ausgrabungsstätte, was mich in der Ansicht bestärkte, es doch mit einer recht sicheren Anlage zu tun zu haben. Wie der Lonely Planet versprochen hatte, liegt die gesamte ehemalige römische Stadt frei zugänglich für jeden in der Landschaft. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Pompei, Vaison la Romaine, Rom und viele andere Stätten mit Ausgrabungen sind anders, gut gepflegt, erklärt, abgesperrt, das alles existiert hier nicht. Nach einem kurzen Anstieg kamen die ersten Ruinen zum Vorschein, je weiter ich ging, desto stärker kristalisierten sie sich aus der Natur. Es ist ein wild-romantischer Ort, die Pflanzen teilen sich gleichberechtigt den Platz mit den alten Steinen und es ist ein wirklich friedlicher Ort, an dem ich mir alle Zeit der Welt ließ, um ihn zu erkunden. Im Lonely Planet ist sogar eine kleine Karte, mit der man sehr gut selbst herausfinden kann, was wo gestanden hat. Aber das ist letztlich nicht wichtig. Ich stellte mir die Menschen hier vor fast 2000 Jahren vor, ich dachte darüber, nach wie sie liebten und lebten, versuchte zu sehen, welche Leidenschaften sie verfolgten, welche Intrigen sie spannen, welche Probleme sie beschäftigten. Das alles ist nicht mehr da, unwichtig geworden und bereits seit Jahrhunderten vergessen. Dabei fragte ich mich, angesichts dieser Tatsache, welche Wichtigkeit wir heute eigentlich haben. Nun, die Antwort ist einfach. Dieselbe, welche das Leben der unbekannten Römer heute hat: keine. Vielleicht nehmen wir vieles viel zu wichtig, denn wenn ich heute an so manche Probleme von vor ein paar Jahren denke, dann kenne ich sie größtenteils schon gar nicht mehr. Ebenso ist es mit alten Liebschaften, die mich vor langer Zeit verzehrten, die mir heute nur ein müdes Lächeln abverlangen. Trotzdem, in dem Moment, in dem ich es erlebt habe, war es wichtig und ich glaube auch heute noch daran, dass es in dem Moment wichtig ist. Alles, was danach kommt, ist egal. Was vorher war, auch.
Aber ich schweife ab. Ich genoss die herrliche Morgensonne, hatte natürlich sowohl vergessen, mich mit Sonnencreme einzuschmieren, als auch an Trinkwasser zu denken. Beides bereute ich und ärgerte mich einmal mehr über meine Schusseligkeit. Aber das war nicht der Ort, sich lange mit düsteren Gedanken aufzuhalten. Da er über der Ebene liegt, hatte ich fantastische Aussichten auf die Umgebung. Larach konnte ich von der Ferne aus sehen, aber auch den Fluss, der sich in großen Bögen durch die Landschaft schlängelt. Ein perfekter, einsamer Ort für Reflexion und Augenschmäuse.
Ich entdeckte das alte Amphitheater, bei dem ich lange auf den recht gut erhaltenen Rängen saß und mich meinen Gedanken hingab. Ich dachte an die Zeit meines Erwachens, denn es war ein ähnlicher Ort wie dieser gewesen. Mit Erwachen meine ich das Entdecken von Interessen, der Beginn meiner Experimente, um es einmal in Gandhis Sprache zu sagen. Ich erinnere mich genau, es war während eines Urlaubs in Paros gewesen. Bei Parikia gibt es hoch oben über der Stadt einen alten, griechischen Tempel. Kaum jemand kennt ihn, kaum jemand sieht ihn. Ich habe mich damals während der stärksten Mittagshitze aufgemacht, ihn zu finden. Ähnlich wie heute lagen die Reste des Tempels, von denen kaum mehr als die Basis erhalten ist, unter dem natürlichen Dickicht von Jahrzehnten Wildwuchs. Trotzdem war es ein magischer Ort, er befeuerte mein Interesse an griechischer, später generell, Geschichte. Heute war es ähnlich und ich konnte im Geiste die beiden Enden zusammen führen, sah die Verbindung, die mich genau an diesen Ort heute geführt hat. Der Lonely Planet sprach von einem noch erhaltenen Mosaik, das ich leider trotz intensiver Suche nicht fand. Vielleicht war es unter einer Sandschicht versteckt. Soweit, diese zu entfernen, wollte ich nicht gehen. Ich sah mir noch die alten Bäder an, von denen manche Bögen den Zahn der Zeit überstanden haben.

Lixus

Moulay-Bousselham 

Glücklich machte ich mich auf den Weg zum Stellplatz, ich weiß, dass ich einen außergewöhnlichen Ort gesehen habe, der abseits jeder Touristenstrecke liegt. Insgeheim hoffe ich, dass es so bleibt, aber so etwas kann man nie wissen.
Die Rückfahrt gestaltete sich etwas einfacher, an den Verkehr hatte ich mich gewöhnt und auch körperlich kam ich mit dem ungewohnten Fahrradfahren besser zurecht. Unterwegs kam ich an einem Supermarkt vorbei, da ich mich noch nicht auf einen echten Markt traue, hielt ich das für die beste Gelegenheit, einige Vorräte einzukaufen. Die Besitzerin half mir bei der Auswahl von etwas Obst und Gemüse, es war eine wirklich nette Erfahrung, geprägt von zurückhaltender Höflichkeit. Sie teilte mir mit, dass ich selbst das Gemüse aussuchen solle, ebenfalls das Brot – immerhin gut zu wissen, denn es sind oft die Kleinigkeiten des Alltags, die einem Sicherheit in einer fremden Kultur geben. (Anmerkung 18 Monate später: Oft darf man frische Ware nur ansehen, aber nicht anfassen. Das führt manchmal zu Streitigkeiten mit Einheimischen, in dieser Richtung sind die Marokkaner aber entspannt. Anders als so mancher Italiener.) Bald darauf war ich beim Stellplatz, packte den Rest der Sachen, beriet noch mit einem Pärchen älterer Frauen über meine Route und sammelte unschätzbare Hinweise von Menschen, die schon seit 10 Jahren Marokko bereisen. Auch bestärkten sie mich in der Tatsache, dass Vorsicht durchaus angebracht ist und dass man eine Weile braucht, bis man die Zeichen der Menschen unterscheiden kann. Das gab mir Ansporn und Selbstbewusstsein.
Ich verabschiedetet mich und machte mich auf den Weg zur Lagune bei Moulay-Bousselham, die 40 Kilometer weiter südlich liegt. Hier sitze ich jetzt, bei einem frischen Pfefferminztee, der immer mehr zu einer festen Einrichtung wird und schreibe. Leider hat sich das Wetter heute mehrfach geändert, der Sonnenschein wurde abgelöst von etwas Regen, dann brannte die Sonne wieder, bevor ein recht heftiges Gewitter auf uns einbrach. So werde ich sicher die vielen Flamingos nicht sehen, die hier brühten. Aber man kann nicht alles machen.
Vielleicht probiere ich heute Abend einmal ein Tajinen-Gericht, ich brenne darauf, obwohl das Ausgehen alleine eine Sache ist, die mir nicht behagt, wahrscheinlich weil es zu Hause, wo auch immer das zeitweise ist, immer der sozialste Teil des Tages war, so dass ich, wenn ich irgendwo allein esse, mir der Einsamkeit bewusst werde. Komischerweise stört sie mich nur dann. Immer.