Pisa
Gestern also sollte der alles entscheidende Tag werden.
Die Nacht war schlimm wie beschrieben, aber es lag nicht in meiner Hand. Im Hotel hielt ich es nicht aus, also entschied ich mich doch dazu, Pisa noch ein wenig mehr zu besichtigen. Ich hatte viel mehr Zeit als mir lieb war, das Warten auf das Urteil schien mir ewig zu dauern. Gegen zwölf, ich befand mich gerade beinahe im Zentrum, hielt ich es nicht mehr aus und rief beim ADAC an. Die Dame am anderen Ende hatte bereits mit der Werkstatt Kontakt aufgenommen, gegen 16 Uhr erwartete man das Verdikt. Was das in Italien heißt, ist auch klar. Vor der Mittagspause geschieht nichts, danach dann wird sich das Auto schnell angeschaut. Ich hatte nichts Gutes zu erhoffen, dessen war ich mir bewusst. Vier Stunden also hatte ich jetzt zur Verfügung. Nichts würde geschehen, also gehörte diese Zeit jetzt mir. Das war wichtig, denn es befreite mich von dem Zwang, vielleicht doch noch das Auto am Abend wieder zu bekommen. Dieser Hoffnung gab ich mich immer noch hin, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht käme ich mit einem weiteren Tag und einer Rechnung von einigen Hundert Euro davon? Ich hörte nicht auf, auf diese Weise positiv zu denken.
Beinahe schon freudig nahm ich nun den herrlichen Tag zur Kenntnis, der vorher durch die düsteren Gedanken so schattig gewirkt hatte. Pisa ist wirklich eine nette Stadt, auch außerhalb des Piazza dei Miracoli. Trotzdem führten natürlich alle Wege dorthin. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass man den Schiefen Turm wieder besteigen kann. Noch nie habe ich es erlebt, bislang war er immer wegen Reparaturen, sprich Geradebiegung, geschlossen gewesen. Um so ernüchternder allerdings ist der Preis, denn das Vergnügen kostet. 15 Euro. Man zahlt mehr für die Idee als für das Vergnügen. Keine Frage, dass ich es mir verkniff.
Der Platz selbst ist natürlich allein schon den Besuch wert. Ich stellte fest, dass ich am Tag zuvor nicht die Kuppel des Doms, sondern die des wuchtigen Baptisteriums gesehen hatte. Der Dom, das einzige Gebäude, zu dem man freien Zutritt hat, war selbstverständlich geschlossen. Trotzdem genoss ich hier eine angenehme halbe Stunde. Danach schlenderte ich weiter durch die Innenstadt. Ab einem gewissen Punkt jedoch konnte ich die Gedanken nicht weiter wegschieben. Alles kreiste um diese Reise, ich machte mir natürlich Gedanken, die sich aber eher um die Tatsache drehten, wie viel ich für die Reparatur eines 16-Jahre alten Autos bezahlen gewillt wäre. Ich kam auf eine Summe von 1500 Euro, das schien mir selbst im Ernstfall realistisch. Am Bahnhof setzte ich mich in die Sonne, las in Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“, fand darin einigen Balsam für die Seele. Stoische Philosophen – ob Aurel das ist oder nicht, weiß ich nicht, aber er zeigt Tendenzen – haben etwas, das dem Irdischen eine gewisse Gleichgültigkeit entgegenbringt. Zwar kann ich es in diesen Augenblicken nicht ganz annehmen, aber allein die Tatsache, dass es einen Weg gibt, selbst mit solch einer Situation umzugehen, reichte mir in diesem Augenblick.
Bald schon war es zumindest 15 Uhr, eine Stunde würde ich noch warten müssen. Ich setzte mich in eine Bar, trank einen Espresso. Auch das half. Dann machte ich mich auf den Weg zurück zum Hotel. Ich glaube, dass ich in den letzten Tagen sehr viel gelaufen bin, denn meine Beine schmerzten ein wenig. Gut für das Gewicht. Ich lief an einem chinesischen Geschäft vorbei, dort schaute ich in Gedanken nach Koffern. Außerdem fand ich einen Discounter, kaufte dort Dinner. Dank eines Euro-Shops war ich wieder im Besitz eines Korkenziehers, das war mir wichtig. Nüchtern war der Abend gestern umso unerträglicher gewesen, das sollte sich nicht wiederholen.
Dann, um 16 Uhr, ich hatte die Zeit fast vergessen, kam der Anruf. Die freundliche Dame vom ADAC teilte mir mit, dass sich das Fahrzeug nicht starten ließ. Gar nicht.
Kein Wunder, die Wegfahrsperre war aktiviert, den Codeschlüssel habe ich an einer Schnur über dem Radio deponiert. Das kann der Mechaniker natürlich nicht wissen. Ich beschrieb der Dame die Lösung des Problems, es dauerte einige Minuten. Es war bereits Viertel nach vier. Die ganze Aktion zeigte mir nur, dass ich richtig gelegen hatte. Keine aufwendigen Tests, nur ein kurzer Blick auf das Problem. Aber noch hoffte ich. Vielleicht auch genau deswegen. Die Diagnose sollte nun um 16:30 erfolgen. Zehn Minuten würden sie sich Zeit nehmen.
Mittlerweile war ich beim Hotel. Der Anruf kam pünktlich.
Schon an der Stimme eines Anrufers kann man merken, wie die Dinge stehen. Bei der Begrüßung klang dieser leichte, bedauernde Ton mit, so dass ich wusste, dass es ein echtes Problem war. Die Diagnose war niederschmetternd. Kapitaler Motorschaden, erste Einschätzung ca. 4000 Euro. Für das Fahrzeug hatte ich vor vier Jahren 5000 gezahlt, selbst ich verstehe, dass sich eine Reparatur in dieser Größenordnung nicht lohnt.
Allerdings war ich wieder einmal beeindruckt von der Arbeit des ADAC. Die Dame listete einige Möglichkeiten auf, wir wurden uns schnell einig. Da es sich um einen Camper handelt, kommt der ADAC für einen Rücktransport nach Berlin zu einer Werkstatt meiner Wahl auf. Auch bezahlt der ADAC meine Rückreise. Ich war wirklich erstaunt, beinahe war mir so viel Gutmütigkeit peinlich. Keine Frage, auch das Hotel verlängerten sie, erst einmal um eine Nacht. Ich wählte die Rückreise per Flugzeug, auch hier musste ich nichts organisieren.
Für jemanden, der zehn Monate allein unterwegs und alle sich stellenden Herausforderungen gelöst hat, war es etwas schwierig zu akzeptieren, dass andere das auch können. Aber ich ließ mich in diesem Moment einfach fallen.
Erst etwas später, im Hotelzimmer, verstand ich wirklich, dass nicht nur das Auto kaputt war. Mit dem Motorschaden endet auch eine Reise, zumindest fürs Erste. Zehn Monate lang war die Transe mein Zuhause gewesen, hatte mir Schutz und Zuflucht geboten. Immer war sie da gewesen, durch dick und dünn, über Berge und durch Täler gefahren. Schnee, Regen, vor allem Hitze, nichts hatte ihr etwas ausgemacht. Und das sollte nun das Ende sein?
Die Dame vom ADAC machte ihren Job gründlich und effizient. Eine halbe Stunde nach der Diagnose war der Flug gebucht. Ich würde noch zur Werkstatt gehen müssen, um die Rechnung der Diagnose zu bezahlen, die einzigen Kosten für mich bei dieser Geschichte. Das würde ich am folgenden Tag am Morgen erledigen, um dann am frühen Nachmittag zurückzufliegen. Also nutze ich den Abend, um zum chinesischen Geschäft zu laufen und dort einen großen Koffer zu kaufen. Als ich gegen halb sieben wieder im Hotel war, fielen mir fast die Augen zu. An Schreiben war nicht zu denken, das hole ich daher gerade nach. Ich telefonierte noch kurz mit Nina, die vom Verdikt noch geschockter war als ich.
Letztlich kann man es nicht ändern.