Imst, Karröster Alm

Ich erwachte zu einem unerwarteten, doch bekannten Geräusch. Es trommelte auf das Dach des Campers.
Es regnete.
Ich blieb gelassen, auch wenn es meine Tagesplanung durcheinanderbrachte. Der Regen sollte erst am Sonntag, also morgen, einsetzen. Ich verbrachte die Zeit daher mit der Lektüre eines Buches vom Dalai Lama. Ich kam nicht weit, weil der Mann es immer wieder schafft, mich mit den kürzesten Nebensätzen zum Nachdenken zu bringen. Dabei verstehe ich nicht einmal alle Worte, die er spricht, sondern nur die, die mich in diesem Augenblick berühren. So ist das mit der Philosophie. Wenn ich sie nicht auf meine Erfahrungen anwenden kann, sind sie pure Theorie. Der Dalai Lama spricht in diesem bereits mehr als 10 Jahre alten Buch über das Gute im Menschen. Auch über die Überwindung des Egoismus, um sich für die Allgemeinheit stärker einzusetzen. Das beschäftigt mich jetzt schon den ganzen Tag.
Vor einigen Jahren habe ich die Einstellung angenommen, dass Egoismus das Einzige ist, das einen Menschen wirklich antreiben kann. Ich habe daraufhin meine Einstellung überprüft und bin in mehr als acht Jahren Schritt für Schritt dahin gekommen, wo ich heute stehe. Nämlich ein Mensch zu sein, der nur seinen eigenen Zielen dient, andere dabei aus dem Blickwinkel verliert, weil mich das ablenken würde. Und genau das ist es, was mich so nachdenklich macht. Habe ich das Wesentliche bei meiner eigenen Transformation aus den Augen verloren? Nämlich meine Fähigkeit, die mich vor Jahren noch auszeichnete, Mitgefühl und Anteilnahme anderen gegenüber. Es hat mich viel Zeit gekostet, so zu werden, mich endlich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was ich vom Leben möchte (wenn ich das denn heute schon weiß). Doch ist das wirklich der Sinn? Muss ich nicht wieder damit anfangen, mein Leben auf eine höhere Stufe zu stellen, ohne den mir angeeigneten Egoismus zu leben? Mir fällt ein Zitat aus Paolo Coellhos „Die Hexe von Nottinghill“ ein. Ich habe so lange gelernt, mit dem Rhythmus zu tanzen. Jetzt muss ich wieder lernen, mich gegen den Rhythmus zu bewegen. So oder so ähnlich. Ich habe die Wahl, etwas für meine Mitmenschen zu tun.
Diese Gedanken sind noch völlig neu, das heißt, sie sind natürlich nicht ausgegoren. Noch immer bewegen sie mich, aber ihre letztendliche Bedeutung ist mir nicht klar. Ich habe heute damit begonnen, einen neuen Weg zu gehen. Wohin er führt, weiß ich noch nicht.
Menschen suchen sich den Teil in ihrem Leben, den sie mit Bedeutung erfüllen. Den Teil, der anderen hilft. Es kann die Arbeit mit Süchtigen sein. Oder Hilfe für Menschen in der Dritten Welt. Ich für meinen Teil weiß, dass ich einen anderen Teil begehen möchte. Es handelt sich nicht um Randgruppen oder Menschen in der Ferne, denen ich helfen möchte. Es sind Menschen wie Du und ich. Menschen, die hier in Deutschland oder Europa leben, die Luxus gewohnt sind. Bei ihnen beginnt die Frage: Was ist gutes Handeln? Sie haben mehr Möglichkeiten als alle anderen, zumindest in der Breite, durch ihr Tun und Lassen etwas zu erschaffen, nämlich „das Richtige zu tun“. Und das in jeder Hinsicht, bei jeder noch so kleinen Aktivität.
Aber das ist es, was mich noch so sehr beschäftigt. Es ist das, was uns vom Tier unterscheidet, nämlich unsere Fähigkeit, gut oder böse zu handeln, die Wahl zu haben. Warum tun wir es nicht? Ich für meinen Teil bin herrlich erfolglos dabei. Ich weiß sehr wohl, wann ich etwas Richtiges mache und wann nicht. Wann etwas Gutes und wann etwas nicht so Gutes. Trotzdem hindert mich dieses Wissen nicht daran, wirklich nur das Gute zu tun.
Vielleicht sind wir noch nicht soweit.
Vielleicht bin ich noch nicht so weit.
Ich werde mich in jedem Fall noch mehr bemühen, ernsthafter einem höheren Handeln zu folgen. Mich in jeder Situation zu fragen, ob es gut ist, was ich tue. Insgeheim habe ich damit schon lange begonnen. Aber erst seit heute weiß ich es.
Der Weg wird nicht leicht. Auch weil er von so vielen Herausforderungen oder besser Verlockungen gesäumt ist. Ich weiß, dass ich oft nicht widerstehen kann. In jedem Fall werde ich damit beginnen, etwas mehr darauf zu achten, ob mein Verhalten für andere auch gut ist, ihnen zumindest nicht zu schaden, was oft sicher ein schmaler Grad ist. Ich stehe am Anfang. Und Fehler werden passieren.

Verglichen mit diesen Gedanken scheint mir die Fortführung des Journals etwas müßig, doch ich werde es trotzdem machen. Um halb elf hörte es auf zu regnen und ich ergriff die Gunst der Stunde. Ich machte mich auf den Weg in Richtung Tschirgant, einem Gipfel, den ich vom Platz aus gut sehen kann. Als Erstes erreichte ich Karrösten, eine noch recht einfache Wanderung. Danach wurde der Weg steiler. Ich stieg auf zur Karröster Alm zu. Ab und an musste ich einem Auto ausweichen, denn die Alm wird bewirtschaftet. Ich habe den Fußweg leider erst später entdeckt. Trotzdem ließ ich mich nicht stören, genoss die herrliche Aussicht auf die Berge gegenüber, von denen viele anfangs noch in Wolken gehüllt waren. Und es dauerte. Kein Wunder, denn der Höhenunterschied zwischen Karrösten und der Alm beträgt ca. 500 Meter. Ich kam gegen eins oben an, hatte mir viel Zeit gelassen. Nach einem ausgiebigen Lunch wollte ich weiter. In der Ferne waren Wolken aufgezogen, die alles andere als freundlich aussahen. Hatte ich anfangs noch den Gipfel vor Augen, kam ich immer mehr davon ab. Ich würde gerne das Wetter darauf schieben, aber am Ende war ich einfach bereits zu erschöpft. Man muss sich das vorstellen. Der Gipfel liegt auf fast 2400 Metern, ich war bei 1500. Noch einen Kilometer nach oben. Steil. Geht natürlich nicht. Ich tat das einzig Richtige und wanderte noch eine Runde, bis ich zum Abzweig kam, ein Weg nach oben und einer nach unten wieder nach Karrösten. Ich wählte zweiteren. Als ich wieder in dem kleinen Ort war, schaute ich recht sehnsuchtsvoll nach oben. Ich konnte das Gipfelkreuz erkennen, doch ich erinnerte mich an ein Zitat von der Mutter des letzten Herrschers von Byzanz (dessen Namen ich vergessen habe), der auf die verlorene Stadt in Tränen zurückschaut: Weine nicht wie eine Frau um etwas, das du nicht wie ein Mann verteidigen konntest. Ich brauchte diesen Spruch nur ein wenig anzupassen, dann ging es mir besser.
Erst als ich wieder in Imst war, ungefähr einen Kilometer vom Platz entfernt, merkte ich, dass ich meine Kräfte richtig eingeschätzt hatte. Ich war völlig fertig. Keine Chance auf diese Gipfeltour. Ich wäre nicht mehr hinuntergekommen. Als ich ungefähr 20 Minuten auf dem Platz war, begann es wieder zu regnen. Auch das sah ich als Zeichen. Es sollte heute nur eine kurze Wanderung von fünf Stunden sein. Alles andere wäre vermessen gewesen. Für die ernsthaften 2000er bin ich noch nicht fit genug. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ich habe also heute in mehr als einer Hinsicht etwas begonnen. Und ich hoffe, in mehr als einer Hinsicht Gipfel erreichen zu können.
Aber alles zu seiner Zeit.