Mykene
Ich habe mich losgerissen. Eigentlich war es klar, mein Entschluss stand fest, doch meine nun vielseitig beschriebene Tranigkeit gefährdete meine Abfahrt. In dieser Nacht schlief ich nicht gut, wachte oft schweißgebadet und mit Rückenschmerzen auf. Etwas beschäftigt mich, ich weiß nur noch nicht was. In meinen Träumen kommt es sicher vor, doch ich erinnere mich nicht.
So also packte ich langsam und behäbig und zahlte. Das Spiel war das Gleiche wie gestern, mühsam parkte ich aus, im ersten Gang dröhnte die Transe dann den Hügel hinauf.
Eigentlich wollte ich nach Korinth, unterwegs in Nemea vorbei, das sah der Plan, den ich mir mühsam zurechtgelegt hatte, vor. Ich passierte Nafplio, hielt noch kurz in Tiryns, um wenigstens von außen einige Fotos zu machen. Wirklich beeindruckend, diese Zyklopenmauern. Mein Weg führte mich an Argos vorbei, hoch über der Stadt thront die Festung. Ich ließ sie liegen. Dann kam das Schild: Mykene. Und mein Plan zerplatzte wie eine Seifenblase. Ohne rechte Kontrolle bog ich ab, hatte eigentlich keine Wahl. Allerdings schimpfte ich auch mit mir, wie konnte ich den irrwitzigen Plan fassen und Mykene auslassen wollen? Mykene, von dem mir meine Eltern vorgelesen hatten, als ich klein war. Genauso wie von Troja, Märchen also, die mich seit frühester Kindheit begleiten. Oder die Geschichten über die Ausgrabungen hier selbst, die mindestens genauso legendär und sagenhaft sind und vielleicht auch einige Körnchen Wahrheit enthalten. Heinrich Schliemann war immer schon eine Art Vorbild für mich, schon wegen seines legendären Sprachtalents.
Wie gesagt, es lag kaum in meinem Entscheidungsspielraum, die Transe hielt wie von selbst beim ersten Campingplatz und damit stand fest, dass ich heute hier bleiben würde. Die zwei Kilometer bis zur Ausgrabungsstelle lief ich zu Fuß, immer an der von riesigen Reisebussen befahrenen Straße entlang.
Ich begann meine Tour beim sogenannten Schatzhaus des Atreus. Zwar war es nicht die erste mykenische Grabstelle, die ich gesehen habe, dennoch war es die erste, bei der ich realisierte, wie gewaltig die Baukunst der Mykener gewesen ist. Ohne Mörtel – wie auch bei den Zyklopenmauern – ist hier ein gewaltiges Gewölbe aufgetürmt, zwischen die exakt behauenen Steine passt nicht einmal ein Rasiermesser. Es ist so ausgeklügelt, dass das Gewölbe noch heute unerschütterlich steht. Als mein Blick nach oben schweifte, erinnerte ich mich an Kuppelbauten wie den Pantheon oder die Kathedrale in Florenz, in der Ghiberti ein solch gewagtes Gewölbe erschaffen hat, dass es mich immer wieder erstaunt und begeistert. Und doch halte ich es für unwahrscheinlich, dass die mykenischen Baumeister Lehrmeister der späteren Generationen waren, zu chaotisch waren die Verhältnisse hier nach dem Zerfall dieser Kultur. Vielleicht konnte das klassische Griechenland deshalb wie der Phönix aus der Asche erstehen, weil es eben nicht vorbelastet war durch vorangegangene Kulturen. Wie zum Beispiel die Römer, die sich kaum von anderen Kulturen haben lösen können, sondern immer nur eine Art weiterlebende griechische Kultur geblieben sind. Zumindest im künstlerischen Sinn. Fast wie die Amerikaner mit ihren europäischen Wurzeln. Man muss mir mit diesen Gedankenspielen nicht folgen.
Zurück nach Mykene. Besonders beeindruckten mich die Maße des mächtigen Steines über dem Tor, der muss viele Tonnen wiegen. Ähnlich wie bei den Pyramiden frage ich mich, wie die Menschen es damals geschafft haben, solche Gewichte zu transportieren und millimetergenau in diese Position zu bringen. Unvorstellbar. Und doch geschafft.
Von hier war es nur noch ein kurzer Marsch zur Stadt selbst. Schon von Weitem sah ich sie mit ihren beeindruckenden Mauern, sie hob sich gegen die Berge im Hintergrund deutlich ab.
Noch konnte ich mich zurückhalten und besuchte das Museum zuerst. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich auf diese Weise mehr über das Gesamtkonstrukt erfahre und die Dinge eher in ihren historischen Zusammenhang bringen kann. Als Erstes las ich die Tafeln über die Ausgrabung selbst. Anders als in Troja war Mykene nie verschollen, ist von Schliemann also auch nicht wieder entdeckt worden. Doch hat er die mykenische Stadt des Agamemnon wieder ins Bewusstsein der abendländischen Menschen gerückt, einige Jahre, nachdem er Troja entdeckt hatte. Er ist damit das für Griechenland, was Howard Carter für Ägypten war. Natürlich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen den beiden, Carter war echter Archäologe, der seine Funde akribisch dokumentiert hat, seine Fundstellen haben daher einen wesentlich wertvolleren Charakter als die des Schliemann, der seine Funde sogar inszeniert haben soll, um sie in ein besseres Licht zu tauchen. Das sagt zumindest die Gerüchteküche. Trotzdem, er hat das Griechentum mit seinen Ausgrabungen einer breiten Masse zugänglich gemacht, das haben ihm wohl die Akademiker von einst nicht verziehen. Kann man ihn deshalb als Prometheus der Europäer bezeichnen? Wahrscheinlich nicht. Aber der Adler könnte einen Schluck Chianti zu seiner Leber…. ach, lassen wir das.
Jedenfalls wurmt es die Griechen ganz offensichtlich gewaltig, dass erst ein Deutscher kommen musste, um die mykenische Kultur wieder ins Bewusstsein zu rücken. Stoisch weisen sie darauf hin, dass Schliemann nur 15 Tage hier gearbeitet hat, wahrscheinlich gerade genug, um die Maske des Agamemnon zu finden. Gold fasziniert schließlich nicht nur mich. Die Arbeit danach führte dann viele Jahre ein griechischer Archäologe weiter, der fast die gesamte Stadt freigelegt hat. Bekannt hingegen ist nur sein deutsches Konterfei. Wirklich ungerecht, aber so ist es nun einmal. Schliemann war sicher kein Archäologe, aber jemand, der sich und seine Funde perfekt in Szene setzen konnte. Ein PR- und Marketingspezialist, würde man heute sagen. Das sehe ich jetzt sehr kritisch, weil ich solche Leute in meinem Leben mehr als einmal habe treffen müssen. Heiße Luft, sehr viel davon, wenig Substanz. Ich hoffe, dass das bei Schliemann anders war.
Das Museum enthält wieder sehr viele Töpferwaren, man kann hier besser als sonst den Einschnitt sehen: Als die mykenische Kultur im 13., 12. Jahrhundert v. Chr. überrannt wurde, verloren die Handwerker anscheinend einiges an Wissen, die Gefäße werden einfacher, die Bemalung kruder. Erst viele Jahrhunderte später entwickelt sie sich wieder, erstrahlte in neuem, ganz anderem Glanz.
Auch die Maske des Agamemnon fehle nicht, leider ist nur eine Kopie ausgestellt. Warum um alles in der Welt liegt das Original in Athen? Es ist beinahe auf der gleichen Ebene wie der ausgestellte Pergamonaltar in Berlin oder die Athener Friese des Parthenon im British Museum in London.
Faszinierend fand ich die vielen Tontafeln mit der Schrift Linear B. Ganz offensichtlich ist sie noch nicht ausreichend entziffert, denn nach Übersetzungen sucht man vergebens.
Dann war es so weit, ich ging zur Stadt selbst. Das Löwentor ist sicher die Hauptattraktion, aber auch hier konnte ich nicht umhin, die gewaltigen Mauern zu bewundern. Laut der Sage hat der Held Perseus die Stadt gegründet, die Mauern sind von den Zyklopen gebaut worden. Hier fällt es nicht schwer, dieser Sage zu glauben, mächtige Riesen wären sicher in der Lage, diese gewaltigen Brocken zu tragen und zu bearbeiten.
Die Anlage selbst ist ein wenig enttäuschend. Es fiel mir sehr schwer, mir den Palast vorzustellen, aber letztlich ist es die Fantasie, die mich beflügelte. Hier also ging es los, hier entschloss sich Agamemnon, Troja anzugreifen, um die Frau seines Bruders wiederzuholen. Wer es glaubt wird selig. Aber Kriege müssen immer eine Berechtigung haben, das wissen wir spätestens seit dem letzten Irakkrieg. Auch wenn diese sich nur kurze Zeit später als PR-Kampagne herausstellte.
Allein also die Vorstellung, dass hier die vielleicht bekannteste Sage der griechischen Geschichte ihren Anfang nahm, rechtfertigte meinen Besuch. Vielleicht hätte ich vorher Homer nochmals lesen sollen. Am Ende konnte ich trotzdem die wichtigsten Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufen.
Seit 11 Tagen bin ich auf dem Peloponnes, morgen fahre ich ab. Die griechische Hauptstadt ruft. Eigentlich wollte ich zwei Wochen hier bleiben, doch jetzt merke ich, dass es genug ist. Korinth werde ich mir nicht mehr anschauen, Trümmer hatte ich in den letzten Tagen genug. Wie schon einmal beschrieben, im Leben geht es um Entscheidungen. Und die treffe ich im Allgemeinen recht zügig. Heute war eine Ausnahme. Allerdings eine sehr willkommene…..