Catania

Und der Regen trommelte weiter, die ganze Nacht hindurch. Es gibt im Schlaf Momente, in denen man sich nicht rühren kann oder möchte, selbst wenn man es sollte. So auch diese Nacht, ich merkte, dass meine Füße langsam immer kälter wurden. Das hat Einfluss auf den Schlaf selbst, denn er ist nicht mehr besonders tief, verpasst einem wilde, erschöpfende Träume. Vielleicht hätte ich die auch gehabt, wenn ich etwas gegen die Kälte unternommen hätte. Es ist nicht so, dass ich völlig der Natur ausgeliefert wäre.

Der Tag begann etwas früher als gestern, gegen halb neun, immer noch viel zu spät, wie ich finde. Es war empfindlich kühl draußen, so kühl, dass ich den ganzen Tag wenig Lust verspürte, hinauszugehen. Ich empfand es wie gestern als nicht besonders schlimm. Diese Tage geben mir endlich die Muße, mich meiner Aufgabe zu widmen. Doch am Morgen verfolgte ich erst einmal das Cricket-Match, Australien gegen England. Zu meiner freudigen Überraschung hatte England losgelegt wie die Feuerwehr, wenn sie die nächsten Tage so weiter spielen, werden sei die sog. Ashes gewinnen. Eines Tages werde ich ein Spiel der Ashes sehen, wahrscheinlich in England. Es ist ein Traum, den ich mir irgendwann einmal erfüllen werde.
Danach aber machte ich mich an die Arbeit. Im Moment lege ich neben der täglich zu schreibenden Wortzahl auch viel Wert darauf, Einiges zu recherchieren. Namen sind Symbole, das wusste schon Shakespeare. Im ersten Roman habe ich mir nicht so viele Gedanken gemacht. Diesmal schon, ich gebe den Lesern Hinweise auf Charaktereigenschaften. Das ist eine wohltuende Arbeit, denn mein Geist ist frei und kann Wege gehen, die er gehen möchte, sich aus der unerschöpflichen Geschichte der Menschheit bedienen. Das Werk an sich wird grausamer, vielleicht weil ein Religionskampf im Mittelpunkt steht. Es ist zeitgemäß, dachten wir, wir hätten die Epoche der Kreuzzüge beendet, beginnen die Vereinigten Staaten ein neues Zeitalter der Gewalt gegen andere Religionen. Es ist und bleibt eine intolerante Welt, in der die jeweils Andersdenkenden verfolgt werden. Auch im eigenen Land.

Ich schrieb also bis in den Nachmittag hinein, machte mir viele Gedanken zu der Welt, in der die Geschichte spielt. Sie zeigt sich mehr und mehr. So wie sie sein muss.
Irgendwann aber hatte ich genug, ich machte mich auf den Weg zu einem Spaziergang. In genau dem Moment begann es wieder zu regnen, nachdem sich die Sonne vorher zumindest zaghaft gezeigt hatte. So blieb es letztlich nur bei einem kurzen Schlendern, bis in die Stadt schaffte ich es nicht. Aber in eine Bar, um einen Espresso zu trinken. Ich stand an der Theke und bestellte. Als ich ausgetrunken hatte und bezahlen wollte, teilte mir der Barister mit, dass ich an der Kasse zahlen sollte, versteckt in einer Ecke des Cafés. Niemand hätte es bemerkt, wenn ich mich einfach verdrückt hätte. Ich muss gestehen, dass mich allein der Gedanke erschreckte. Wie tief muss man sinken, um für 80 Cents einen Diebstahl zu begehen. Doch war es so, ich spielte für einen Bruchteil einer Sekunde mit dem Gedanken, einfach zu gehen. Warum ist das so? Bin ich so veranlagt? So geizig, dass ich nur auf meinen Vorteil achtend sogar die kleinste Zeche prellen würde? Mir fielen einige Worte von Marc Aurel ein, das sogenannte richtige Handeln. Es ist wie gesagt nicht schwer. Man weiß, wie man richtig handeln sollte, besonders in solchen Fällen. Ich weiß es auch sonst, auch wenn ich nicht richtig handle, weiß ich es vorher. Zumindest in Ansätzen. Ich möchte mich dieser Philosophie in Zukunft noch bewusster nähern. Er war ein Mensch, dessen Denkansätze ich mag, die ich heute zumindest besser verstehe. Ich habe sie schon einmal gelesen, mit Mitte zwanzig. Damals wusste ich nicht viel damit anzufangen. Heute ist es anders. Aber so geschieht es manchmal mit Autoren. Da liegen diese Bücher Jahrzehnte lang im Regal, weil man sie nicht wirklich verstanden hat, dann fallen sie einem wieder in die Hände und plötzlich werden Ideen geboren. Das menschliche Leben ist faszinierend, die Entwicklungen, die man durchmacht, die Dinge, die man nach Jahren plötzlich versteht, die Irrtümer, die man einsieht und natürlich die guten Wege, die man gewählt hat, um es auch einmal positiv zu formulieren.

Eine Passage sprang mir heute besonders ins Auge. Marc Aurel schrieb davon, dass man sich auf wenige Aufgaben konzentrieren sollte, um ein Maß an Frieden zu erreichen. Schon während ich las, verstand ich, er wollte besonders mir etwas sagen. Ich habe mich in der Vergangenheit oft auf zu viele Dinge konzentriert. Statt nur zu schreiben, habe ich gezeichnet und gemalt, statt mich aufs Werbetexten zu konzentrieren, habe ich mich auch mit Design beschäftigt. Das ist närrisch, Natürlich muss man Dinge ausprobieren. Und ich bin froh, dass ich es getan hab. Aber jetzt ist es genug, meine künstlerische Gestaltung liegt nun mal im Schreiben. Alles andere überlasse ich anderen. Vorerst zumindest. Aber vielleicht kommt eines Tages auch meine Zeit als Maler. So wie im Moment auch meine Zeit als Philosoph wiederzukommen scheint.
Somit habe ich heute eine Menge erlebt, auch wenn ich nicht in der Gegend herumgerannt bin. Und das Schöne ist, dass ich sehr zufrieden bin mit dem Tag. Erst nächste Woche soll sich das Wetter wieder merklich bessern. Ich sehe das als Chance. Für mich. Und für meinen Roman.