Velika Plateau
Ich weiß auch nicht, warum ich immer so spät aus dem Bett komme. Erst gegen acht Uhr schaffte ich es aufzustehen, angesichts der Tatsache, dass ich abfahren wollte und somit einiges zu erledigen hatte, war das spät. Da ich auch manchmal ein Meister im Aufschieben sein kann, hatte ich vieles gestern Abend einfach ignoriert, die Töpfe und Pfannen stapelten sich und ich musste sogar einen kleinen Löffel, der nicht sehr schmutzig war, rehabilitieren und nach einigem Reiben an einem Taschentuch für sauber erklären, sonst hätte ich nicht frühstücken können. Den Haufen Abwasch kann ich jeder vorstellen. Das Schlimmste war, dass er mich aufhielt wie die anderen kleinen Pflichten wie Duschen und Rasieren, die alle gestern möglich gewesen wären. Dass ich dann noch 20 Minuten an der Rezeption anstehen musste, weil die Schlange aus zwei Holländern so lang und die wirklich sehr, sehr nette und hilfsbereite junge Dame, die immer für ein Schwätzchen aufgelegt war, ihre Zeit für die Vorgänge brauchte, kam ich erst weit nach zehn Uhr los. Später sollte sich das rächen.
Dieselbe Rezeptionistin, die alle Gäste so erfolgreich unterhalten hatte, war so nett gewesen, mir vor zwei Tagen den Tipp für meine nächste Etappe zu geben. Ich wollte zur Velika Planina, ein sehenswertes Plateau am Rand der Julischen Alpen. Es war eine interessante Fahrt, die einige sehenswerte Steigungen und lustige Serpentinen zu bieten hatte, die allerdings noch nichts waren im Vergleich zu denen im Appenin vor drei Wochen. Es gab einen Campingplatz, von dem ich vorher nichts gewusst hatte, direkt an der Seilbahn, mitten im Wald. So ein Glück, wahrscheinlich wäre ich sonst abends nach Ljubljana gefahren.
Es war bereits fast zwölf, als ich mich endlich niedergelassen hatte.
Die Versuchung, einfach die Seilbahn zu nehmen und auf das Plateau hinauf zu fahren, war groß, doch ich widerstand ihr. Ein Berg, den man nicht selbst erklommen hat, ist nicht halb so schön. Man versteht ihn beim Wandern, kann den Weg nachvollziehen. Direkt vom Campingplatz führte der Pfad nach oben.
Worauf ich mich eingelassen hatte, ahnte ich dunkel. Erst ging es noch sanft nach oben, ein Pfad schlängelte sich recht gemütlich am Berg hoch. Doch dieses kleine Paradies währte nicht lange, kein Wunder, denn es mussten mehr als 1000 Höhenmeter sein, die ich zu überwinden hatte. Bald schon wurde der Pfad schmaler und die Steigung größer. Sie wurde fast oberschenkelmuskelexplodierend, so dass ich einige kleine Pausen einlegte, allerdings immer nur, um kurz zu verschnaufen. Dabei stellte sich heraus, dass ich beim Wandern sehr gut nachdenken kann, denn ich hatte eine Menge Einfälle, was die gotische Geschichte angeht. Ich bin ja der Auffassung, dass ähnlich wie bei den Marmorblöcken des Michelangelo, in denen er die Figuren nur herausschlagen musste, die darin gefangen waren, eine Geschichte auch schon existiert. Man muss sie nur aufschreiben und damit aus seinem Hirn befreien. Alles ganz leicht, es ist alles da. Das Wandern hat demnach befreiende Wirkung, denn auch wenn ich heute kein Wort für die Geschichte geschrieben hab, so hab ich mehr dafür getan als an manchen anderen Tagen, an denen mich mein Kopf quälte, wenn er mir Informationen vorenthielt.
So stieg ich immer höher durch den Wald, der betörend gut roch. Frisches Holz, Erde, Tannen – ich weiß nicht, es roch einfach angenehm. Ein Schild hatte mich auf einen Aufstieg von drei Stunden vorbereitet. So etwas nehme ich nie sehr ernst, denn es ist meist die Geschwindigkeit von 75-jährigen, die hier zugrunde gelegt wird. Das ist hier allerdings nicht so, denn nach drei Stunden war ich noch nicht oben. Mühsam erklomm ich Meter für Meter, benutzte den Wanderstock, um mich hoch zu ziehen, immer in dem Bewusstsein, dass ich die Strecke auch wieder nach unten musste.
Irgendwann erreichte ich eine Art Zwischenplateau. Vor mir eröffnete sich eine Ebene. Ich dachte, ich wäre angekommen, irrte aber, denn es war nur eine Zwischenstation. Den Weg, der mich direkt auf das Velika Plateau gebracht hätte, verpasste ich, weil ich einer übermütigen Gruppe Pferden ausweichen musste, die meine traurige Gestalt wild begrüßen wollte, was mir ein wenig Angst einjagte. Ein halbes Dutzend Pferde, das auf einen zu galoppiert, ist schon eine ungewöhnliche Angelegenheit für einen Städter. Letztlich waren sie nur neugierig. Ich aber übersah dadurch das entscheidende Schild, das ich erst auf dem Rückweg entdeckte.
So lief ich weiter, die breite Straße ließ mich nichts ahnen. Da ich erst sehr spät, gegen halb eins, losgegangen war, musste ich mit der Tatsache leben, dass es nicht mehr sehr früh war. Ich hätte das Plateau auch auf der Strecke erreicht, wie ich später feststellte, doch ich verlief mich, folgte einem Pfad, der mich in den Wald hinein führte. Irgendwann geschah das, was allen Wanderern einmal zustößt, der Pfad endete. Es gab keinen Ausweg, ich musste umkehren. Hatte ich vorher noch mit dem Gedanken gespielt, wenigstens zum Abstieg die Seilbahn zu benutzen, war diese Idee nun auch dahin, denn ich hatte diese nicht gefunden. Es war schon nach vier und der Weg nach unten lang, so dass ich keine Zeit verlor und umkehrte.
Auf dem Rückweg bemerkte ich alle meine Fehler, so dass eine erneute Wanderung viel leichter wäre. Ich sah das Schild, an dem ich vorhin die Pferde getroffen hatte. Die erschreckten mich auf der Rücktour erst spät, zwei ungestüme Fohlen konnten es nicht lassen. Ich brüllte wie ein Cowboy, schwang meinen Stock, das machte Eindruck. Es war beim zweiten Mal fast schon lustig.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist, der erschöpfende Aufstieg oder der Abstieg, wenn es so steil ist, dass man das Gewicht immer wieder mit den kaum entwickelten Oberschenkelmuskeln auffangen muss. Wieder dauerte es Stunden, bis ich unten war. Auf der Rücktour gönnte ich mir die einzige Pause, die man auch so nennen kann, zehn Minuten setzte ich mich auf einen Stein. Das war auch bitter nötig. Mittlerweile hatte ich mich mehr als einmal gestoßen, war umgeknickt und humpelte bereits ein wenig. Das passiert mir nur bei Abstiegen, vielleicht auch, weil die Konzentration nachlässt. Ich hörte zu, einfach so in den Wald hinein. Dabei fiel mir auf, dass es mucksmäuschen still war. Es war nichts zu hören, kein einziges Geräusch. Nicht dass es unheimlich war oder tot, nein, es war einfach nur ruhig. Ich habe das noch nie erlebt, kein Vogel zwitscherte, nicht einmal die Blätter rauschten. Ich rief in den Wald, meine Stimme versickerte in den Stämmen. Dabei war das Holz lebendig wie selten, gesund und stark, das fühlte ich. Ich glaube, dass ich außer meinem sehr gut entwickelten Sehsinn auch mein Gehör und meinen Geschmack weiter entwickeln muss, die beide ebenfalls hochgradig empfindlich sind. Mal sehen, ob ich es schaffe.
Was mein heutiges Ziel anging, so habe ich das Plateau zwar nicht gesehen, aber den Berg bezwungen. Somit steht eigentlich einer Seilbahnfahrt morgen nichts im Weg. Immer vorausgesetzt, das Wetter hält.
Es sieht leider nicht danach aus.