Anamur

Das Datum ist bedeutend. Vor 21 Jahren fiel die Mauer. Doch da vor 72 Jahren in Deutschland Synagogen brannten, können wir Deutschen nicht den 9. November feiern, müssen stattdessen mit dem 3. Oktober vorlieb nehmen. Schade eigentlich. Und schuld haben natürlich die Ossis, die hätten mal lieber einen anderen Tag auswählen können. So etwas Unverschämtes. Zur Strafe müssen sie am Kapitalismus teilnehmen. Seit 21 Jahren. Zumindest in den meisten Teilen der neuen Bundesländer.

Heute war für mich ein Tag der Arbeit. Nachdem sich mein Programm gestern so gut bewährt hatte, begann ich sehr früh mit der Korrektur. Ich muss gestehen, dass ich Hunderte von Fehlern korrigiert habe. Einige sind wirklich peinlich. Besonders das simple „dass/das“ mache ich häufig falsch, obwohl ich die Regeln seit Jahrzehnten beherrsche. Unglaublich, aber wahr. Andere Dinge lerne ich, habe sie einfach nicht gewusst. Stundenlang starrte ich in den Computer. Die Betreiber des Campingplatzes denken, dass ich ihren Platz beschreibe, was mir immer einen Vorrat an frisch gelieferten Früchten beschert. So habe ich es noch nicht erlebt, aber die Aufschrift an der Seite des Campers, „www.kreativ-reise.de“, lässt viele Leute denken, dass ich entweder Touren organisiere oder aber Plätze teste. Woran sie nicht denken, ist die Tatsache, dass ich, wenn ich so etwas wirklich machen würde, mich niemals durch solch plumpe Werbung verraten würde. Ich würde es dann vorziehen, dass Leute sich normal benehmen, sprich wie sonst auch. Im Moment jedoch werde ich umschwärmt, auch wenn das die sanitären Einrichtungen nicht jünger und die Duschen nicht warm macht. Von heiß will ich noch gar nicht reden. Trotzdem geht es, es gibt einen Strand, was möchte ich mehr?

Ich habe heute eigentlich nur gearbeitet. Abgesehen von einem Spaziergang am Strand entlang steckte mein Kopf immer im Text fest. Dann aber sah ich nur noch verschwommene Zeichen, somit war es an der Zeit für eine Pause.
Direkt am Strand erhebt sich eine Ruine, die wollte ich erkunden. Auf einem Trampelpfad gelangte ich ins Innere der Burg. (Anmerkung ein Jahr später: Es handelt sich um Mamure Kalesi, eine bedeutende Burganlage der Kreuzfahrer, die auf den Fundamenten einer römischen Anlage steht). Ich fragte mich, ob das ein offizieller Weg war, wahrscheinlich nicht. Die Anlage entpuppte sich als eindrucksvoll. Vom Strand aus sah es so aus, als ob sie nicht sehr groß wäre, doch das täuschte. Ich entdeckte mindestens drei Höfe. Teile der Mauer sind durchlöchert, vielleicht Kanonenbeschuss? Irgendwann gelangte ich in den größten Hof, laufend fragte ich mich, ob ich Eintritt zu zahlen hätte. Letztlich traf ich niemanden, vielleicht auch, weil ich den Teil mied, der wahrscheinlich der offizielle Eingang ist. Ich lief eine Treppe hinauf, die mich in einen Turm führte. Die Stufen waren abgetreten und rutschig, genau das Richtige also für einen Möchtegern-Abenteurer wie mich. Immer höher stieg ich, am Ende stand ich auf einer Plattform neben der türkischen Flagge. Die Aussicht war herrlich, denn ich bekam eine Übersicht über die Anlage, die wundervoll ruinös vom Meer umspült wird. Es war bereits drei Uhr nachmittags, die Sonne schien nicht mehr so intensiv. Auch im November sollte man sie hier nicht unterschätzen.

In der Provence haben Nina und ich Les Baux gesehen, eine Burgruine, von der kaum noch etwas übrig ist. Doch durch die Erklärungen wurde sie lebendig. Diese hier ist besser erhalten, doch da die Erklärungen fehlten, wurden die Steine nicht lebendig. Trotzdem genoss ich es, denn es gab keine Absperrungen. Ich konnte erklimmen, was ich wollte. So eine Freiheit ist nicht zu unterschätzen. Und die Ruine ist wirklich wild-romantisch, vor allem, wenn die Sonne sich beginnt zu neigen. Der Sonnenuntergang muss traumhaft sein.
Doch den verpasste ich, weil ich wieder im Text steckte. Mehr als 120 Seiten bin ich durchgegangen, orthografisch und grammatikalisch. Das Programm machte es mir leicht, sicher sind jetzt die meisten Fehler beseitigt. Morgen werde ich den Roman beenden. Langsam, ganz langsam realisiere ich es. Erst jetzt ist es wirklich soweit. Vorher handelte es sich nur um den Irrtum, nahe am Ende zu sein, denn seit zwei Monaten hantiere ich daran herum. Immer in der Erwartung, bald fertig zu sein. Nun aber habe ich es fast geschafft. Morgen wird der Tag sein. Nach sechs Monaten kann ich es endlich sagen. Ich fühle mich gut dabei, noch nicht fantastisch, aber gut. Vielleicht kann ich dieses Gefühl noch steigern.
Sicher, ich muss noch die Kritik abwarten, dann folgt nochmals eine weitere Überarbeitung, aber das kommt später.
Morgen also werde ich wieder arbeiten, diese letzte Hürde nehmen. Dann geht es raus.
Dann bin ich frei. Für’s Erste zumindest.