Siena

In der Nacht gewitterte es, danach wurde es noch kälter. Dennoch kann ich sagen, dass ich nicht gefroren habe. Allerdings lässt mich die Kälte länger schlafen als gewohnt, anscheinend braucht man bei niedrigen Temperaturen mehr davon. Alles war grau und ich vermisste die Sonne, aber ich bin in der Toskana, was Grund genug ist zu jubeln, statt zu jammern. Nachdem ich alles aufgeräumt und meine Morgentoilette beendet hatte, machte ich mich auf den Weg.

Ich weiß nicht, wie ich es genau beschreiben soll. Vielleicht so: Man trifft nach vielen Jahren einen alten Freund wieder, zu dem man die ganze Zeit über keinen Kontakt hatte. Und von Anfang an ist es so wie damals. Als wäre keine Zeit vergangen, als hätte man sich gerade erst Lebewohl gesagt. So war es in Siena. Nach neun Jahren Stille, doch die Begrüßung war herzlich. Wie gewohnt musste ich irgendwo außerhalb parken, in der Nähe der Altstadt war das damals wie heute nicht bezahlbar. Es ist wie das Schuhe-Ausziehen-sonst-zerkratzt-das-Parkett. Da das Park-and-Ride System wie üblich gut funktioniert und die italienischen Busfahrer hilfreich und auskunftsfreudig sind, war es kein Problem, in die Innenstadt zu gelangen. Nur ein Wort: wundervoll. Ich lief einfach nur die uralten Gassen entlang, bestaunte die Palazzi, in denen hier Geschäfte, Banken und Privatpersonen untergebracht sind.

Dann ein Höhepunkt: Piazza il Campo. Ich habe es vor Jahren schon gesagt und sage es immer noch, auch nachdem ich halb Europa gesehen habe: Es ist der schönste Platz, den ich kenne. Und wie auf Bestellung brach hier die Wolkendecke auf, binnen Minuten war der ganze Platz in Sonne getaucht. Natürlich bis auf die Stellen, die durch die Häuser im Schatten lagen. Ich setzte mich einfach auf eine trockene Stelle am Brunnen und genoss die Wärme. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte ich ein anderes, viel traurigeres Gefühl. Denn ich hatte gerade das einzige Bewerbungsgespräch hinter mir, das ich damals in Italien ergattern konnte und wusste, dass mein Traum, hier zu leben, vorerst nicht in Erfüllung gehen würde. Wie lange der Abschied jedoch dauern würde, dessen war ich mir damals nicht bewusst. Mir gingen die Szenen heute nochmals durch den Kopf, als damals 31-Jähriger mit Ausbildung, Uni-Abschluss und Arbeitserfahrung gesagt zu kriegen, dass man gehaltstechnisch ganz unten anfangen müsse, weil man noch nie in Italien gearbeitet hätte. Es zerstörte meine Illusionen, ließ mich hart auf den Boden der Tatsachen aufschlagen. Aber es gab mir etwas, das ich damals nicht für möglich gehalten hätte: Die Chance, es erneut in England zu versuchen. Und das will ich niemals in meinem Leben missen.
Also hat sich alles eingerenkt, alles hat den Platz gefunden, auf den es gehörte. Somit bin ich mit Siena im Reinen und konnte meine Zeit hier genießen.

Auch dachte ich hier an das vorletzte Mal. Damals war ich noch so wahnsinnig und machte im Hochsommer Urlaub. Nun, ich war Student und konnte nicht vorher. Außerdem ist es mit Zelt und Rucksack noch einigermaßen erschwinglich. Ich rede natürlich vom Palio, dieses völlig verrückte Pferderennen, für das man stundenlanges Fahnenschwingen ertragen muss und das nicht sehr viel länger als eine Minute dauert. Die meisten Reiter fallen bereits – dank des fehlenden Sattels – in der ersten Runde vom Pferd, Knochenbrüche bei Tier oder Mensch sind keine Seltenheit. Alles ist erlaubt, auch das Verprügeln des Gegners mit der Peitsche.
Love it.
Aber von all dem Trubel der Sommermonate war nichts mehr übrig. Ich war höchst erfreut zu sehen, dass Siena im Dezember den Italienern gehört. Nur wenige Touristen wagen sich zu dieser Jahreszeit hierher. Eigentlich sollte ich nur noch im Winter herkommen.

Danach lief ich wieder die Straßen entlang. Ich liebe es, mir die Geschäfte anzusehen. Sie sind mit so viel Liebe ausgestattet, die Waren werden so perfekt wie möglich in Szene gesetzt. Ich werde selten von Konsumartikeln gelockt oder gar geködert, hier aber war die Versuchung riesig, mir nicht eine Ledertasche, ein Sakko oder zumindest ein Stück Panforte zu leisten, von dem ich weiß, dass es mir nicht schmeckt. Ich widerstand aber, brauchte dafür aber eine Menge Energie.
Doch eines leistete ich mir. Einen Espresso-Macchiato. Der muss einfach sein. Aber 90 Cent hatte ich gerade noch übrig. Dabei muss ich sagen, dass mich mein seit drei Monaten wachsender Schnurrbart beim Trinken stört. Immer bleibt etwas Milchschaum hängen und es ist sicher kein besonders appetitlicher Anblick, diesen zu entfernen. Ich habe es mir angewöhnt, es so zu machen wie David Suchet als Poirot. Mit einem Taschentuch tupfe ich mir den Bart ab, und zwar nach jedem Schluck. So geht es vielleicht. Allerdings werde ich ihn mir abrasieren, wenn er mich weiterhin am Kaffeegenuss hindert. Vielleicht geht es besser, wenn der Bart länger ist. Dann könnte ich ihn aus dem Weg zwirbeln. In einem halben Jahr werden wir schlauer sein.
Danach lief ich zur Kirche der heiligen Katharina, Santa Domenico. Ich mochte schon immer ihre Schlichtheit. Die der Kirche meine ich. Heute fielen mir die modernen Fenster auf, die im starken Kontrast zu dem erhabenen, aber sehr hellen und luftigen Bau stehen. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte hier das Gefühl, genau zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Ein Wiedersehen, das mir viel Freude gemacht hat. Wie üblich hingen die Flaggen der 17 Bezirke an den Wänden, wieder ein Umstand, der mich an die Rivalität beim Palio erinnerte. Und das alles auf engstem Raum, wenn man bedenkt, dass diese auch heute noch mit dem gleichen Feuer brennt wie vor Jahrhunderten. Schon allein die Tatsache, dass es 17 Bezirke in einer solch kleinen Stadt gibt, erstaunt mich immer wieder. Wenn man auf der anderen Straßenseite lebt, gehört man praktisch schon zu einem anderen und muss ein anderes Pferd anfeuern.

Später lief ich zum Dom, den ich von überall aus hatte sehen können. Hier fand ich die erste Veränderung vor: Es kostet jetzt Eintritt, ihn zu sehen. Ich kann mit der italienischen Penibilität, die Karten nicht vor der Kirche zu verkaufen nichts anfangen. Man muss sich erst vom Dom wegbewegen, weil in großer Entfernung davon die Eintrittskarten verkauft werden. Ich finde das scheinheilig. Im Grunde spricht nichts dagegen, diese riesigen Museen auch mit Tickets zu belegen. Aber dann sollte man auch dazu stehen. Stattdessen gibt es den Ticketschalter und gleichzeitig den Kontrollschalter beim Eingang. Blödsinn. Geht aber sicher auf die Reaktion Jesu zurück, dem die Geschäftemacher vor dem Tempel so sehr auf die Nerven gingen, dass er sie kurzerhand verjagt hat. Es ist ihm nicht gut bekommen. Letztlich hat er sich dadurch Feinde gemacht, die dann lieber für Barabas schrien als für ihn. Am Ende aber hat er das letzte Wort. Und das seit 2010 Jahren. Ist eigentlich kein schlechter Tausch, wenn man es aus dieser Sichtweise sieht. Was sind schon einige Lebensjahres mehr für die Quasi-Unsterblichkeit des eigenen Namens?
Sei es drum.

Ich lief danach einfach noch weiter, nach einigen Stunden aber war es genug und ich fuhr zurück zum Campingplatz. Da es noch einige Zeit hell sein würde, lief ich zum Dorf, das sich als etwas enttäuschend herausstellte. Aus der Ferne hatte es uriger ausgesehen. Aber letztlich genoss ich nochmals einen schönen, wenn auch nicht spektakulären Ausblick auf die Gegend. Dann bezog sich der Himmel und ich eilte zurück. Jetzt, einige Stunden später, gewittert es wieder und es ist auch recht frisch, vor allem im Camper. Aber ich muss es erleben. Ich muss wissen, wie es ist, so zu leben. Zu allen Jahreszeiten. Es gehört nun einmal dazu, diese Erfahrung. Denn ich möchte nicht nur ein Schön-Wetter-Urlauber, sondern ein Reisender sein. Und der muss sich auch Strapazen aussetzten. Erst durch Stress lernen wir. Ich auch. Und wenn ich lerne, werde ich zufrieden.
Es ist schön, wieder zu reisen. Ich hatte es vermisst.