Genua

Nichts war es mit dem Feiern. Vorgeführt worden sind wir, denn die Spanier waren in allen Belangen überlegen. Nicht viel zwar, aber immer einen Schritt schneller, so dass wir völlig verdient 0:1 verloren haben. Olé.
Trotzdem war ich stolz, denn dieses deutsche Team hat mir bislang viel Freude bereitet und war auch in der Niederlage zwar enttäuscht, aber niemals unsportlich. Ich halte das für eine große Tugend, die beinahe noch mehr zählt, als die Gegner an die Wand zu spielen. Somit ging das Team samt Trainer ausgesprochen würdevoll vom Platz, mit dem ganzen Selbstbewusstsein, dass der Weg, den sie zusammen eingeschlagen haben, goldrichtig ist und dass sie ihn trotz dieser einen Niederlage niemals aufgeben werden. Ich hoffe ernsthaft, dass das auch die Schrumpelköpfe beim DFB so sehen, die als irrwitziges Management über diese Belange zu entscheiden haben. Als wenn es eine Firma wäre, die Produkte für einen freien Markt herstellt, aber das ist es, was sie uns weißmachen wollen, dass Fußball wirklich ein Produkt ist. Leider haben sie bereits so viele Naive überzeugt, die nach alter Sitte konsumieren, konsumieren, konsumieren und somit alles, was früher einmal Sport genannt wurde, ad absurdum führen. Doch das ist sicher nicht nur ein deutsches Problem. Im Gegenteil, andere europäische Nationen sind viel schlimmer dran. Vor allem die Briten mit ihren Vereinen, die hoch verschuldet sind oder semi-kriminellen Patriarchen gehören.

Heute weckte mich meine innere Stimme bereits vor Sieben, doch ich war zu müde, um sie ausreden zu lassen. Ich hätte schon um kurz nach acht einen Zug nach Genua nehmen können, doch dank meiner Faulheit konnte ich mich erst um zehn dazu entschließen. Ich bereute das bitter und litt noch mehr. Es war grauenhaft. Nicht dass es wahnsinnig heiß gewesen wäre, vielleicht um die 30 Grad, vielleicht lag es auch an der Luftfeuchtigkeit, aber ich floss förmlich dahin. Am schlimmsten war es in einer Bar, in die ich mich geflüchtet hatte, um zum einen Cappuccino zu trinken, um auf den Zug zu warten, der Verspätung hatte. Der Raum war klimatisiert, was meine Schweißdrüsen anscheinend noch kräftig anfeuerte. Ich muss ein elender Anblick gewesen sein, mir war es selbst unsagbar peinlich. Bislang habe ich die älteren und schwereren Menschen immer belächelt, die bei hohen Temperaturen immer vor Wasser triefen, doch schienen diese damit heute wesentlich besser zurechtzukommen als ich. Vielleicht lag es auch an dem Kaffee, ich weiß es nicht. Mir schwante jedenfalls Übles, denn es war ja noch recht früh am Tag. Ich beschloss, meine Schweißtreiberei zu ignorieren, prompt wurde es auch etwas besser.

Genua gefiel mir auf den ersten Blick, eine stolze Stadt am Meer, mit einem beeindruckenden Hafenbecken, das einer riesigen Bucht ähnelt. Prächtige Häuser erheben sich um dieses Becken herum, bis weit in die Hügel hinein. Das Schönste war, dass ich mich beinahe sofort in die Altstadt verlieren konnte, ein riesiges Labyrinth aus Häusern und Gassen. Ich liebe so etwas. Zu dieser Zeit ging ich zwar noch nicht komplett verloren, doch wusste ich auch niemals so genau, wo ich war. Das machte alles nichts.
Es war vielleicht auch das Gemisch an Menschen, das mich von Anfang an so faszinierte. Asiaten, Schwarze, Araber, einige Nordeuropäer, wenige Italiener – es brodelte in den Gassen. Dieser Stadt sieht man noch an, dass sie einfach so gewachsen ist, dass das zum Standbild gehört. Ich fand Fast-Food-Restaurants, die Tajinengerichte anboten, beinahe wie in Marokko. Friseursaloons, die sich auf Rastas spezialisiert hatten, die die farbigen Frauen so kunstvoll flechten können. Ich bin bei so etwas immer etwas in Versuchung, doch jetzt mit 40 ist es dafür wohl doch etwas spät. Das wären dann sicher bald sehr graue Rastas, nicht besonders cool, oder?
Dazwischen immer wieder Uhrengeschäfte, mal mit einer Produktpalette, die selbst ich als Markenklau erkenne, mal teuerste Juweliere, alles Seite an Seite. Untergebracht übrigens in historischen Gebäuden, die nicht mehr ganz prachtvoll und neu sind, bei denen schon die Farbe und der Putz abbröckelt, doch das gehört hier einfach dazu. In diesem Gewimmel verlor ich mich, doch ging ich im Grunde nur das Hafenbecken entlang, ohne es jedoch zu sehen, denn die Straßen sind dicht bebaut. Immer wieder tauchten großartige Palazzi auf, teilweise mit Marmor und Granit geschmückt, schwarz-grün und weiß. Ab einem gewissen Punkt wurde es etwas kommerzieller, ohne sich jedoch zu eindeutig in ein Freilicht-Museum zu verwandeln. Hier folgte ich dann einigen Hinweisschildern, die mich zum Dogenpalast führten, der mich allerdings nicht wirklich beeindruckte. Vielleicht zu amtlich und steif, es passt nicht in diese Stadt, die auf mich bislang eher den Eindruck gemacht hatte, alles andere als gerade zu sein. Als viel schöner empfand ich die Kathedrale, die ebenso wie die Palazzi mit Marmor und Granit geschmückt ist. Sie erhebt sich eindrucksvoll inmitten der Altstadt. Leider wurde ich bei dem Versuch, sie zu betreten daran gehindert. Nicht weil ich kurze Hosen trug, man bedenke, ich trug bei diesem Wetter lange, nur aus dem Grund, um in Gotteshäusern anständig gekleidet zu sein, nein, weil der Kirchendiener Mittagsruhe machen wollte. Ärgerlich aber wahr. Gegen drei hätte ich wiederkommen können, doch habe ich es vergessen. Das geschieht schon mal.
Daraufhin folgte ich dem Hinweisschild „Porto Antico“, sehr vielversprechend, denn ein alter Hafen ist sicher interessant. Ich musste unweigerlich an Portsmouth denken, wo viele teilweise Hunderte Jahre alte Schiffe liegen. Doch ich wurde enttäuscht. Zwar sah ich einen antiken Segler, doch das Gros der alten Lagerhäuser scheint mir modern renoviert. Das moderne Aquarium, von dem ich gelesen habe, machte auf mich auch keinen so großen Eindruck, aber sicher ist es innen fantastisch, zumindest wenn man dem Rough Guide glauben schenken kann.

Ich war bereits seit einigen Stunden unterwegs, brauchte nun dringend eine Pause. Leider haben die Kellner hier die Angewohnheit, einen mit verdrehten Augen zornig anzustarren, wenn man nur eine kalte Cola trinken will, selbst wenn es sich um eine Bar handelt. Ich blieb trotzdem dabei, denn mein Budget verträgt hier in Italien bei erhöhten Übernachtungskosten keine Ausrutscher. Leider fand ich einen Wifi-Anschluss, so dass ich mit dem Surfen begann. Ich ärgerte mich maßlos über eine Mail der deutschen Post, die mein Paket aus Marokko endgültig aufgegeben und mir eine Sofortzahlung von 30 Euro anbot. Wohlgemerkt bei einem Paketinhalt von weit über 200 Euro. Diese Geschichte werde ich bei Gelegenheit in aller Ausführlichkeit zusammenfassen, denn es geht nicht allein um die Summe, sondern um die Art und Weise, wie ein Beinahe-Staatsunternehmen, in dem noch immer Leute „arbeiten“, bzw. für das Nichtstun bezahlt werden, die mit einer Gleichgültigkeit den Kunden auf eine Weise abwehren, dass ich nur mit dem Kopf schütteln kann.

Ich versackte ein wenig, so verstrich viel zu viel Zeit mit dem Lesen von unnützen Artikeln. Besonders hat es mir zurzeit das deutsche Gesundheitswesen angetan, dessen „Reformen“ durch einen nicht gerade kompetenten FDP-Mann einmal mehr derartig ungerecht auf die ärmsten Schichten unserer Bevölkerung verteilt werden, dass man beinahe die Guillotine wieder einführen möchte. Sie merken schon, es war der Tag der Entrüstung.
Durch diese Eskapaden, die nur meine Galle beschäftigten, war schon viel zu viel Zeit verloren gegangen. Also lief ich los, ganz in Ruhe, denn in einer Stunde fuhr meine Bahn. Ich ließ mir Zeit und kam irgendwann vom Weg ab. Mein mir eigener Orientierungssinn war mir abhandengekommen, ich lief einfach irgendwo lang, immer in der Hoffnung, am Meer zu landen. Mir hätte eigentlich auffallen müssen, dass ich die ganze Zeit bergauf lief, aber so viel Verstand besaß ich bei dieser Hitze anscheinend nicht. Plötzlich stand ich in einem ganz eigenen Viertel. Die Verbindung zwischen den Bildern, die meine Augen sahen und meinen Synapsen, die mir die entsprechende Deutung dieser Bilder in sofortige Aktion umwandeln, funktionierten ebenso in Zeitlupe wie alles heute. Ich stand schlicht und ergreifend vor einer endlos langen Gasse der käuflichen Liebe. Sicher drei Dutzend Frauen warteten eher gelangweilt darauf, dass irgendetwas passieren würde. Für eine Sekunde wollte ich einfach hineinlaufen, wie gesagt, Zeitlupe, dann stoppte ich abrupt, drehte mich um und lief so schnell ich konnte in die Richtung, aus der ich gekommen war. Es muss ein köstliches Bild für die Prostituierten gewesen sein, und ich bin froh, ein wenig zu ihrer Erheiterung beigetragen zu haben, denn ich meinte, das eine oder andere Lachen hinter mir gehört zu haben.
Ich weiß letztlich nicht, wie ich dorthin gekommen war, selbst das Finden des Meeres, das ich zur Orientierung brauchte, stellte sich als schwierig heraus. Letztlich fand ich den Hafen und somit auch bald den Bahnhof, völlig am Ende, nass bis auf die Knochen, trat ich die Heimreise an.
Ich weiß, dass ein einziger Tag für eine solche Stadt nicht ausreicht. Doch werde ich Genua als aufregende Stadt in Erinnerung behalten, die – lebhaft, brodelnd, ein wenig schäbig – genau nach meinem Geschmack ist.
Morgen geht es in die Berge des Apennin, dort bin ich immer nur rasch hindurchgefahren. Also ist es endlich einmal an der Zeit, für einige Nächte zu bleiben. Ob ich bei der Hitze zum Wandern komme, weiß ich allerdings noch nicht. Vielleicht wenn ich ganz früh aufstehe. Schöne Aussichten.