Béziers

Wenn ich dachte, dass das Wetter gestern schlecht war, musste ich heute bemerken, dass es für alles eine Steigerung gibt. In der Nacht hatte der Wind aufgefrischt, keine Ahnung, ob es der berühmt-berüchtigte Mistral war, jedenfalls schüttelte sich der Camper gewaltig, draußen heulte und tobte es. Eine unruhige Nacht stand mir bevor, denn besonders Wind hat einen störenden Effekt auf mein inneres Gleichgewicht. Morgens kam ich dann wie erwartet nicht sehr früh aus dem Bett, doch Eile wollte sich auch dann nicht einstellen. Es war bitterkalt, sicher nur noch um die 10 Grad und immer noch schneidend windig. Die Wolken hingen tief, doch noch regnete es nicht.

Eigentlich hatte ich geplant, heute nach Montpellier zu fahren, aber als ich auf Béziers zusteuerte, sah diese Stadt bereits von Weitem so beeindruckend aus, dass ich anhielt. Wie bereits gestern hatte ich wieder eine Art Flashback, eine Erinnerung an einen Ort, diesmal in England, schnellte empor. Durham, im Norden Englands, hatte anscheinend damals ähnlich auf mich gewirkt. Auch dort steht hoch oben auf dem höchsten Punkt der Stadt die Kathedrale, die das gesamte Umland zu beherrschen scheint. Wuchtig und majestätisch, ähnlich wie hier in Béziérs. Ich lief über eine alte Brücke, die leider ebenfalls für den Autoverkehr benutzt wird und dadurch an Charme verliert. Als ich in der Stadt ankam, fiel mir das englische Sprichwort ein: You never geht a second chance to make a first impression. Der Ort wirkte öde und verlassen, auch ein wenig schmutzig. Dabei waren die Häuser wie sonst auch alt und charakteristisch, doch lange nicht renoviert oder für den Tourismus zurecht gestutzt. Die Leute, die mir begegneten, wirkten finster und unzufrieden, dazu kam jetzt noch, dass es begann, langsam zu tröpfeln und der Himmel sich immer mehr verfinsterte. Es war eigentlich sehr atmosphärisch, denn es wirkte wirklich wie eine Geisterstadt. Viele Gebäude und Geschäfte waren einfach zugemauert, einst reichlich besuchte Restaurants oder Kneipen lange geschlossen. Ich konnte nicht anders als zu denken, dass es hier in Südfrankreich noch vor 20 Jahren in vielen Orten so ausgesehen haben muss, bevor die Jagd der reichen Nordeuropäer nach günstigen Immobilien in der Sonne alles verändert hat. Hier jedenfalls ist davon nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Ich lief durch diese verödeten Gassen zur Kathedrale hinauf, erst auf dem Platz davor wurde es ein wenig einladender. Was ein einziges Restaurant ausmacht, ist schon beeindruckend. Ich bin froh für diese Erfahrung, denn es war wie eine Art Zeitreise, bevor diese Gegend in Mode kam und sich unwiederbringlich verändert hat. Warten wir ab, bevor auch dieser Ort entdeckt wird, die Voraussetzungen jedenfalls hat er. Die Altstadt, wenn auch unrenoviert, bietet allerhand antikes Baumaterial für die Verwirklichung von Träumen.

Ich betrat die Kathedrale durch einen Seiteneingang. Es war trotz gotischer Architektur eine schummrige Angelegenheit. Vielleicht lag es auch an der düsteren Stimmung draußen. Mittlerweile war ich regelrecht eingepackt in Sweatshirt und Regenjacke, einen Zustand also, von dem ich nicht mehr genau sagen kann, wann ich ihn das letzte Mal erleiden musste. Ich hielt mich nicht lange hier auf, sondern schaute mir die Kathedrale lieber von außen an. Es ist ein etwas freundlicherer Bau aus hellem Sandstein, wuchtig sieht er natürlich auch von Nahem aus. Ich genoss es, wieder in den Klostergarten gehen zu können, der nicht so paradiesisch bepflanzt ist wie der in Narbonne. Eigentlich ist er gar nicht bepflanzt, nur mit Kies bedeckt, aber die Gänge mit ihren hohen Kreuzgratgewölben schritt ich trotzdem in guter Laune ab. Ich mag Klostergärten. Eine Treppe führt zu einem weiteren Garten, den Mönche angelegt haben, ein etwas traditionelleres Design aus winzigen, zurechtgeschnittenen Büschen, die ein Muster ergeben. Von hier hatte ich einen schönen Blick auf den Fluss, der sich unter mir durch das Tal schlängelte. Das war, bevor es richtig anfing zu regnen. Sightseeing macht bei Regen gar keinen Spaß, ich lief noch ein wenig durch die Innenstadt, deren Zustand sich ab der Kathedrale spürbar verändert. Zwar fehlen die Modeboutiquen für Touristen und die Cafés Chiques, doch immerhin merkte ich, dass dieser Ort bewohnt ist. Vorher war ich nicht sicher. Irgendwann stand ich jedenfalls auf einem prachtvollen Platz mit hohen Bäumen, von denen ich nicht mehr genau sagen kann, ob es Palmen oder andere Pflanzen waren – war dann anscheinend nicht wichtig – doch der Regen verleidete mir den kleinen Ausflug jetzt. Vielleicht hatte ich mir auch den ersten Anflug einer Erkältung zugezogen, jedenfalls war ich nicht mehr in der Stimmung, weiter zu laufen. Vielleicht machte ich mir auch Gedanken um das Auto, dass ich irgendwo in dieser einsamen Gegend abgestellt hatte. Das war natürlich völlig unbegründet, nichts war geschehen, denn es stand ebenfalls an einer viel befahrenen Straße, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte.

Später öffnete der Himmel wirklich seine Schleusen. Es hat ja etwas, im Camper zu sitzen, einen Kaffee zu trinken, genug Zeit zu haben und langsam zu entscheiden, was man als Nächstes tun möchte. Auf Montpellier verspürte ich bei dem Wetter keine Lust, also schaute ich nach einem passenden Campingplatz. Und hier bin ich nun, bei Mèze, sitze sogar draußen, auch wenn der Himmel bedenklich düster aussieht. Es sind noch 380 Kilometer nach Nizza, aber dort muss ich erst am Samstag gegen 15 Uhr sein. Also kein Problem, ich werde das Unwetter vorüberziehen lassen und noch etwas schreiben.
Trotzdem ist es ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit. Aber das haben wir in Berlin im Januar, Februar, März auch gesagt. Warum sollten die Franzosen es besser haben?