Ercolae Minoa

Ich war natürlich zu feige.
Allerdings hatte sich meine halbherzige Entschlossenheit, einen Zahnarzt aufzusuchen, auch auf meine Schmerzen ausgedehnt, die bereits in der Nacht erheblich nachgelassen hatten. Den ganzen Tag heute spürte ich zwar immer wieder einen leichten Druck, aber im Grunde nichts, was ein Aufsuchen eines Doktors hier meines Erachtens gerechtfertigt hätte. Jetzt, am Abend, ist dieser Druck etwas stärker, man könnte ihn fast schon als Schmerz bezeichnen, so dass ich zweifle, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist. Ich werde in jedem Fall noch den morgigen Tag abwarten, vielleicht ringe ich mich doch noch dazu durch, mich untersuchen zu lassen.

Es war sicher nicht die eisigste Nacht, die ich hier erlebt habe, aber vielleicht die anstrengendste. Die Morgenstunden sind immer die kältesten, dann krauchen die eisigen Temperaturen selbst in den dicksten Schlafsack. Ich hatte kaum Lust aufzustehen, auch wenn es vielleicht besser gewesen wäre. Stattdessen blieb ich liegen, auch wenn ich es das erste Mal seit der Türkei beinahe geschafft hätte, bereits vor sieben auf den Beinen zu sein. So also blieb ich liegen, vor neun war mit mir nichts anzufangen und auch danach litt ich den ganzen Tag unter dieser Nacht. Ich glaube, ich habe es schon einmal geschrieben. So muss es Wohnungslosen gehen. Kein Wunder, dass die nach einem Winter im Freien völlig verändert sind. Das sind Erfahrungen, die sich nur jemand zumindest ansatzweise vorstellen kann, der das einmal einige Zeit mitgemacht hat.
Nina kommt in einigen Tagen, vielleicht wäre es besser, doch in ein Hotelzimmer zu ziehen. Ich glaube, sie würde es vorziehen. Auf der anderen Seite kann es auch wieder wärmer werden. Immerhin sind wir recht weit im Süden. Ich darf gar nicht an die Rückfahrt denken, ich jammere schon bei fünf Grad über Null, wie soll es mir erst ergehen, wenn es minus zehn sind? Ich allerdings finde, dass dann ein Aufenthalt im Camper nicht mehr möglich ist, schon gar nicht für mich. Das soll Spaß machen und keine Prüfung sein.

Ich las eine ganze Weile, ehe ich mich bereit dazu fühlte, mit dem wieder sonnigen, doch kühlen Tag etwas anzufangen. Ganz in der Nähe hatte ich ein Schild gesehen, das auf Ausgrabungen hingewiesen hatte. Ercolae Minoa, eine griechische Siedlung. Dort fuhr ich hin. Ein mürrischer Angestellter kassierte vier Euro, gab mir dann nur widerwillig das Ticket. Die Stätte war eine ziemliche Enttäuschung und ich weiß wirklich nicht, warum ich mir das noch antue. Erstens gab es zwar einige Hinweisschilder, die die Ruinen zumindest etwas zum Leben hätten erwecken können. Die waren aber leider alle nur auf Italienisch. Sehr schade. Es gab ein völlig verwittertes Theater, dessen Bänke aus Sandstein abgeschmirgelt waren. Um die Erosion aufzuhalten, ist es jetzt überdacht, was dem Theater jeden Charme nimmt. Ansonsten sah ich noch einige Häuserruinen, auch überdacht, aber ansonsten war das Gelände überwachsen und unterschied sich kaum von den Hügeln in der Ferne. Auch das kleine Museum mit einigen Scherben und Gegenständen konnte die Stätte nicht aufwerten. Ich ärgerte mich ein wenig, denn immer wieder falle ich auf so etwas hinein, bin immer einen Fünfer los und nach einigen Minuten mit der Besichtigung fertig. Noch nicht einmal die Toiletten waren geöffnet, sie wurden wohl gerade renoviert. Aber schön lag die antike griechische Siedlung, mit herrlichem Blick aufs Meer, direkt an Kalkklippen, so wie man sie aus Dover kennt. Das sah ich freilich erst, als ich zum Strand gefahren war.
Auch hier war es beinahe menschenleer, selbst wenn noch eine Pizzeria geöffnet hatte. Der Strand, direkt hinter einem Pinienwald, ist breit und lang, leider auch reichlich verdreckt. Einige Wohnmobilisten haben sich hier in gut ausgerüsteten Fahrzeugen niedergelassen. Eigentlich keine schlechte Sache. Sie haben sicher eine Abmachung mit dem Restaurant, jeden Tag dort zu essen, wenn sie denn die sanitären Einrichtungen benutzen dürfen. Dabei gewinnt letztlich jeder.
Lange hielt ich mich nicht am Strand auf, in der Ferne zogen wieder einmal bedrohliche Wolken auf. Nichts ist deprimierender als Regen am Strand. Also beschloss ich, heimzufahren. Unterwegs machte ich noch Halt, um einzukaufen. Ribera lag zwar nicht auf dem Weg, aber nicht weit entfernt. Sollte ich morgen doch noch einen Arzt benötigen, kenn ich nun den Weg.

Den Rest des Tages nutzte ich, um den letzten Teil des Kommissars Bernhard Gunther fertig zu lesen. Ich bin fasziniert von diesen Geschichten, auch wenn das letzte Buch nicht in Berlin, sondern in Wien spielt. Aber auch hier wuchs meine Wut auf den Umgang mit den Naziverbrechern gewaltig. Nicht nur die Deutschen sind dafür verantwortlich, auch die Alliierten, denen die hochrangigen Verbrecher gerade gut genug waren, um sie im beginnenden Kalten Krieg einzusetzen. Es ist eine perverse Welt und ich hoffe, dass es wirklich so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit gibt. Nun, ich bin davon überzeugt. Einige verdienen es, als Amöbe wieder geboren zu werden. Vielleicht auch als Kuhfladen. Aber das ist nicht an mir, das zu entscheiden, das macht jemand anderes. Er/sie wird schon wissen, was zu tun ist.

Ich überlege, ob ich morgen weiterfahren sollte. Es gefällt mir hier nicht sonderlich, und vielleicht könnte ich woanders mehr sehen als hier. Auch wird die Zeit langsam knapp, in gut einer Woche muss ich wieder in Catania sein. Ich will noch gar nicht weiter denken. Denn heute erlaubte ich mir, mit der Idee zu spielen, in vier festen Wänden zu wohnen. Es ist kein leichter Gedanke, mit dem ich mich gerade auch nicht anfreunden kann. Was das heißt, weiß ich noch nicht.