Mystras

Ein wundervoller Tag geht langsam zu Ende. Ein Tag auch, an dem sich wieder einmal bewahrheitet hat, dass das langsame Reisen erfüllender ist als das Schnelle. Ich muss kurz ausholen. Ich habe gestern nicht viel getan, bin bereits gegen 14 Uhr auf dem Campingplatz gewesen, habe Mystras dennoch noch nicht gesehen, obwohl reichlich Zeit gewesen wäre. Stattdessen habe ich es mir etwas gut gehen lassen, geschrieben und gelesen, etwas in meinem Duden geschmökert – später dazu mehr – und meine Zeit im Internet und im Pool verbracht. Ein schlechtes Gewissen wegen meiner Faulheit gab es gratis dazu.

Heute begann der Tag nicht viel temporeicher, erst gegen neun stand ich auf, danach vertiefte ich mich wieder in das Buch, das über das Leben im real-existierenden Sozialismus handelt, ein absoluter Albtraum also, nicht das Buch, aber das Leben damals. Schlimme Geschichte. Erst gegen elf lief ich los, suchte nach dem Eingang zur Ausgrabungsstätte. Eine freundliche Griechin zeigte mir den Weg, ein kleiner Trampelpfad an Olivenhainen vorbei Unterwegs fand ich einige Feigenbäume, die über und über mit reifen Früchten beladen waren. Eine pflückte ich, sie war tief lila und schmeckte derartig süß, dass es beinahe schon zu viel war. Trotzdem haben frisch vom Baum gepflückte Früchte etwas ganz Besonderes, vielleicht ist es auch nur die Faszination des Städters, dass so etwas wirklich irgendwo wächst und nicht in Fabriken hergestellt wird. Auf die gleiche Weise naschte ich von einer Weinranke, die über und über mit Trauben beladen war. Sie waren nicht so süß wie sonst, ein herrlich frischer Stich Säure vermengte sich mit dem Zucker, die etwas herbe Schale passte großartig dazu. Ich glaube, wenn ich hier leben würde, ich würde mich nur von selbst angebauten Tomaten, Wein – in vielerlei Form – und Früchten ernähren. In Deutschland wächst das ja alles nicht so recht. Den ollen Appel aus Omas Garten kann der Teufel holen.
So kam ich also gestärkt und gut gelaunt am unteren Eingang der Stadt an. Dabei erfuhr ich, dass diese erst in den 50er Jahren endgültig verlassen worden war, zwangsweise, weil das Gelände unter Denkmalschutz gestellt wurde. Allerdings dürften das nur noch die hartnäckigsten Bewohner gewesen sein, die meisten sind wohl schon wesentlich früher ins moderne Sparta umgesiedelt. Von Anfang an also machte Mystras auf mich den Eindruck einer Geisterstadt. Ich liebte es sofort. Ich wählte eine Route, die mich erst zu einem etwas weiter gelegenen Kloster führen sollte, entlang an halb verfallenen Häusern, von denen einige gerade restauriert werden. Ein alter Engländer kam mir entgegen, schnaufte an seinem Stock und fragte nach dem Ausgang. Ich zeigte ihm den Weg, er tat mir leid, denn die uralten Kopfsteinpflaster sind sicher nicht für Leute seines Alters geschaffen. Überhaupt braucht es hier mitunter recht gute Fitness, denn die Wege gleichen oft einem Gebirgspfad. Die Steigungen ebenfalls. Mir machte es daher reichlich Spaß.

Das Kloster selbst, eigentlich eine kleine Kirche in byzantinischem Stil, war eine echte Offenbarung. Ich hatte kaum damit gerechnet, aber als ich eintrat, schaute ich auf herrliche Fresken. In meinem ganzen Leben habe ich selten gestaunt, wenn ich eine Kirche betrat, in Assisi in der Oberkirche, als ich die Fresken Giottos sah oder in Arrezo in einer Kirche, deren Namen ich vergessen habe. Sonst jucken mich diese Gemälde kaum noch, hier aber war es anders. Diese Fresken hatten den „Umpf“, sie sind Meisterwerke unbekannter Künstler, die ich als echte Kunst und nicht nur gutes Handwerk bezeichnen würde. Die kräftige blaue Farbe war auch nach Jahrhunderten noch erhalten, einige christliche Szenen konnte ich sogar deuten, auch wenn ich mich jetzt nicht mehr im Detail erinnere. Besonders fiel mir ein Jesusbild auf, der meines Erachtens demjenigen in der Hagia Sofia nachempfunden war. Dabei erinnerte ich mich noch an eine Geschichte. Nachdem ich nun den Zeustempel samt Statue des Phidias in Olympia nicht habe in seiner einstigen Pracht sehen können. Aber wieder habe ich vor vielen Jahren gelesen, dass die Zeusstatue, die die letzten Jahre in Konstantinopel gewesen ist, als Vorlage eben dieses Jesusbildes in der Hagia Sophia diente. Somit trüge Jesus die Züge des Zeus des Phidias und da dieser Jesus hundertfach kopiert worden ist – so auch hier – hätte die Zeusstatue doch auf die eine oder andere Weise überlebt. Zumindest teilweise. Und Zeus hätte eine beachtliche Karriere hinter sich, erst als Gott der Griechen, dann als Gottes Sohn der Christenheit. Wieder einmal kann ich das nicht belegen. Aber ich sag es mal trotzdem.

Danach lief ich zum nächsten Kloster, eine größere Anlage weiter oben. Auch hier fand ich Fresken, die aber den künstlerischen „Umpf“ nicht enthielten, dennoch gewann ich langsam Geschmack. Ich kann den „Umpf“ nicht erklären, er ist entweder da oder nicht. Dieses Kloster wird übrigens noch betrieben. Ich mochte hier vor allem die Außenfassade, die auf mich beinahe schon einen fröhlichen Eindruck machte. Der Architekt hat mit verschiedenen Erdfarben gespielt, nutzte vor allem Klinkersteine zur Verzierung, aber auch andere und hat somit einen erhabenes und dennoch aufgelockertes Design geschaffen. In dem Gebäude selbst haben die Einwohner garantiert Teile von antiken Bauwerken verwendet. Viele Säulen stammen aus Tempeln, sicher auch einige Steine im Mauerwerk. Aber warum nicht die teuren Materialien nutzen, wenn sie so zahlreich zur Verfügung stehen?
Ich lief weiter, immer stramm nach oben, las dabei die vielen Infotafeln und lernte, dass die Stadt aus drei Stufen bestand: das Kastell ganz oben, die erste Verteidigungslinie, in der die adligen wohnten und die dritte für das einfachere Volk. Typisch, oder? Innerhalb des zweiten Abschnitts liegt der ehemalige Palast, der leider zurzeit restauriert wird. Es sieht so aus als würden sie wieder einmal zu gründlich vorgehen, denn das Gebäude sieht bereits jetzt wie neu gebaut aus. Danach bekam ich wieder eine Kirche zu sehen, die Qualität der Fresken nahm immer weiter ab, vielleicht hatte ich mich aber auch bereits überladen. Das geschieht schon mal, wenn man zu viel auf einmal von derselben Sache sieht. Abwechslung gibt dem Leben erst die Würze.

Nun stand mir der lange Aufstieg zum Kastell bevor. Der Weg wurde immer unwegsamer, für ältere Menschen ist dieser Ort sicher nicht mehr zu empfehlen. Auch ich merkte langsam, dass ich nicht mehr die Wendigkeit eines 20-jährigen habe. Manchmal bemerke ich meine eigene Steifheit. Es ist keine schöne Erfahrung und ich werde von nun an noch mehr Fitness und Dehnübungen machen, um in Form zu bleiben. Denn ich möchte noch viele Orte wie diesen sehen. Natürlich hatte ich es wieder einmal geschafft, mitten in der Mittagshitze die größte Steigung auf mich zu nehmen. So etwas kann ich einfach nicht koordinieren. Doch die Mühe lohnte sich. Zwar ist das Kastell eine Ruine bis auf die Grundmauern. Aber man kann sie vollständig allein erkunden. Die Aussicht von hier oben ist einfach großartig. Man sieht nicht nur die Berge im Hintergrund. Auch die Ebene Spartas liegt wie auf einem Präsentierteller vor einem. Das war einmal die Heimat einer der mächtigsten Polis/Stadtstaaten in der Geschichte Griechenlands. Von oben sieht es wirklich beeindruckend aus, die Berge umschließen die moderne Stadt, in deren Nähe auch der antike Ort gelegen hat.
Auf dem Weg nach unten kam ich an weiteren Klostern und Kirchen vorbei, langsam reichte es. Es scheint, dass es das Einzige ist, was im alten Mystras erhalten ist. Es wäre schön gewesen, einmal ein Bürgerhaus zu sehen. Aber davon sind nur noch Ruinen übrig, die man nicht betreten darf. Sie arbeiten jedoch daran. Ein kleines Museum beeindruckte mich nicht sehr. Wenn ich mir etwas gewünscht hätte, wäre es ein größeres Museum über die lange Geschichte dieser Stadt gewesen, die einmal den Status einer echten Metropole gehabt hat und die ein echter Stützpfeiler im oströmischen Reich gewesen ist.

Stundenlang war ich durch die alte Stadt gestreift, hatte sie von Kopf bis Fuß erkundet. Ich bin froh, sie nicht gestern im Schnelldurchgang gesehen zu haben, denn sie ist es wert, meine ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Auf diese Weise hatte ich Zeit, denn ich musste heute nicht weiter, meine Unterkunft war gefunden, Einkaufen brauchte ich auch nicht, also die normalen, alltäglichen Sachen waren heute erledigt. Erst gegen vier Uhr hatte ich genug, fand sogar die Abkürzung zum Campingplatz und konnte mich noch etwas an den Pool legen.
So etwas nenne ich einen perfekten Tag. Leider habe ich das Schreiben an meinem gotischen Roman heute nicht geschafft, aber nach so vielen erfolgreichen, kreativen Tagen ist eine Pause nicht schlecht.
Morgen geht es weiter, wieder an die Küste. Meine Runde auf dem Peloponnes ist beinahe komplett.