Anamur

Sechs Uhr früh. Plötzlich knackt es. Ich kannte das Geräusch, das mich bereits die letzten Tage und Nächte begleitet hat. Irgendwo in der Nähe steht ein Lautsprecher. Und den nutzt der Imam sehr intensiv. Auch heute früh wieder, wo mich sein religiöser Gesang geweckt hat.
Eigentlich mag ich es. Es erinnert mich daran, dass ich mich in einem anderen Kulturkreis aufhalte, aber auch so, denn dieses „Chanten“ auf türkisch und in einer orientalischen Tonleiter mit den fremd klingenden Halbtonschritten ist mitunter schön. Es kommt allerdings auf den Imam an. Der hier in Anamur trifft leider die Töne nicht richtig. Zum Glück kenne ich andere, die besser singen. Trotzdem möchte ich es nicht missen. Vielleicht könnte ich um sechs darauf verzichten, aber auf mich hört sowieso niemand.

So also startete ich den Tag, nachdem ich wieder eingeschlafen war, erst gegen acht. Das Schreiben der vergangenen Monate hat Spaß gemacht, keine Frage, aber heute brauchte ich das erste Mal nicht an die Geschichte zu denken. Also konnte ich mich ganz in Ruhe meinem Roman und meinem Latte Macchiato hingeben, hatte keine Eile, auch wenn die wenigen lichten Stunden immer weniger werden. Trotzdem, selbst um acht war es bereits warm draußen, in der Sonne schon fast zu heiß, also kann ich mich nicht beklagen. Wie warm es in Berlin sein wird? Ganz sicher nicht so sommerlich wie hier.
Heute jedoch hatte ich mir vorgenommen, wieder etwas zu besichtigen. Das Einzige, was mir hier noch fehlte, war die Hauptattraktion, die antiken Ruinen. Ich wusste nicht genau, wie weit sie entfernt sein würden, trotzdem beschloss ich, auf dem Rad hinzufahren. Es ist gesünder, sich zu bewegen, und 40 Kilometer wären mit dem Rad sicher leicht zu bewältigen. Am Ende lagen die Ruinen höchstens 10 Kilometer entfernt. Die Straße war meist flach und stellte mich somit nicht vor größere Hindernisse. Irgendwann kam ein Schild mit dem Hinweis, eine winzige Straße führte mich zu den Ruinen. Vorher jedoch musste ich einer Dame, die in einem kleinen Kabäuschen saß, einen Obolus von drei Lira geben. Ich verschmerzte es gerade so, auch wenn ich später feststellte, dass man auch sehr einfach über den Strand in die antike Stadt hätte gelangen können.

Die Ruinen sind ganz sicher noch nicht vollständig ausgegraben. Überall wuchert es, auf einigen Trampelpfaden jedoch erreichte ich die wenigen beschilderten Gebäude. Erst allerdings lief ich in Richtung Strand, wo die Ruinen beinahe bis ins Meer hinein ragten. Die Lage des Ortes ist wundervoll, direkt am Meer an der Bucht. Ich sah von hier aus die antiken Befestigungsanlagen, die sich an den benachbarten Hügeln emporschlängelten. Ansonsten war besonders in Strandnähe kaum noch etwas zu erkennen, einige Mauerreste, die zu nicht zu identifizierenden Häusern gehört haben müssen, ragten aus dem Dickicht aus störrischen und kratzenden Pflanzen empor. Ich versuchte manchmal, näher an die Gebäude zu gelangen, gab aber wegen ihrer Unzugänglichkeit früh auf.
Erst als ich wieder auf einer Art Hauptweg entlang lief, waren die Häuser erreichbar. Ich besichtigte antike Badehäuser, konnte nicht feststellen, ob die wirklich so gut erhalten sind oder einfach nur gut restauriert wurden. So muss es eigentlich sein. Das Odeon allerdings ist restauriert, und zwar recht gewalttätig. Doch fand ich in den Gängen noch originale Mosaike, von denen nur einige Teile sichtbar sind. Das Meiste liegt unter einer dicken Erdschicht, also begann ich damit, diese vorsichtig zu beseitigen. Ich setzte das nur kurz fort, weil ich wissen wollte, ob die Mosaike weitergehen. Tun sie, wenn jemand einmal die Erde entfernt, wären quadratmeterweise antike Böden sichtbar.
Vom alten Theater etwas oberhalb des Odeons ist kaum noch etwas erhalten. Nur noch die Form, ansonsten ist der Rest sicher den Steinräubern späterer Zeiten zum Opfer gefallen.
Ich setzte meine Besichtigung fort, kam in die berühmte Nekropolis. Die ist allerdings kaum zugänglich, trotzdem folgte ich einem Trampelpfad, der allerdings im Nichts endete. Als eine Schlange vor mir flüchtete, dachte ich mir, dass ich mein Glück bisher genug strapaziert hatte und drehte um. Meine Beine waren ohnehin von den trockenen Disteln bereits arg gebeutelt, daher fiel es mir leicht. Diese Anlage war ganz nach meinem Geschmack, ich hatte sie fast für mich allein, Zäune gibt es nicht, so dass ich erkunden konnte, was ich wollte.

Nach zwei Stunden hatte ich genug, machte mich in der Mittagshitze auf den Rückweg, die man trotz des Novembers nicht unterschätzen sollte. Ich strampelte und schwitze ganz schön. Doch die Bewegung tat mir gut, das spüre ich jetzt.
Den Rest des gerade erst angebrochenen Tages saß ich am Strand und las. Es ist gut, dass ich mir nicht sofort wieder eine andere Verpflichtung auferlegt habe. Doch immer mehr erscheint mir die Türkei für diese Zeit der ideale Ort für das Schreiben zu sein. Die Sonne scheint noch immer sehr stark, auch wenn es heute das erste Mal etwas diesig war. Aber ich suche noch etwas weiter, fahre morgen wieder ein Stück in Richtung syrischer Grenze. Zum Umdrehen kann ich mich nicht entschließen. Noch nicht. Denn es ist die folgenschwerste Entscheidung dieser Reise. Einmal umgekehrt bedeutet das Ende, auch wenn es langsam kommt. Und dafür bin ich noch nicht bereit.