Rhonda

Es ist 10 Uhr, in drei Stunden geht meine Fähre. Es ist stürmisch da draußen, daher sitze ich im Camper und schreibe hier. Es ist soweit alles vorbereitet, ich weiß ungefähr,wo ich in Tanger unterkommen möchte. Ich bin wirklich gespannt.
Gestern ist nicht mehr sehr viel geschehen. Ich habe außerhalb von Tarifa einen Campingplatz angesteuert, der direkt am Meer liegt. Auch gestern bließ eine kräftige Brise, die mich allerdings nicht von einem ausgedehnten Strandspaziergang abgehalten hat. Was des einen Ärgernis, ist des anderen Nutzen. Denn es gab hier unzählige Drachen/Kites. Viele ließen sich von diesen auf Surfbrettern durchs Wasser ziehen und hatten sichtlich ihren Spaß. Andere ließen die Drachen nur am Strand steigen, was meinen Spaziergang ein wenig beeinträchtigte, denn nicht jeder wusste mit dem Gerät umzugehen, so dass ich permanent auf der Hut sein musste, nicht von einem der Geräte getroffen zu werden. Da ich den Strand bis Tarifa ungehindert überblicken konnte und sah, dass sich in diesem Abschnitt noch Dutzende, wenn nicht Hunderte von Kites in der Luft befanden, beschloss ich, meinen Spaziergang abzukürzen. Man muss sein Glück ja nicht über alle Maße strapazieren, schon gar nicht zu Beginn einer solchen Reise.
Als ich zurück war, checkte ich auf dem Campingplatz ein, vorhin war die Rezeption nicht besetzt gewesen. Ein Spanier, der mich an meinen verlorenen Freund Alessandro aus Florenz erinnerte, stand dort mit seiner dicken Brille, Knopf und Handysprechanlage am Ohr. Es war ein höchst lächerlicher Anblick. Es kam aber noch besser, denn nicht nur verlangte der Rezeptionist meinen Ausweis, er scannte ihn auch ein, legte dabei besonderen Wert auf die genaue Erfassung meines biometrischen Bildes. Auf meine Frage, warum er das täte, antwortete er nur: „It’s the law.“ Meine Emailadresse bekam er trotzdem nicht, das alles ging ohnehin schon viel zu weit.
Den Abend feierte ich, ein ausgiebiges Mahl bestehend aus Krustentieren sollte mir zu diesem Anlass genügen. Leider hatte ich keine Ahnung, wie man an das Fleisch bei den meisten Tieren kommen könnte. Ich war froh, so etwas nicht in einem Restaurant bestellt zu haben, denn es wurde zu einem ausgesprochen schwierigen Unterfangen, das nicht sehr sauber ablief. Die Gambas waren noch einfach, doch die Krebse…. ich kam einfach nicht durch die dicke Schale durch. Ich wusste, wo das Fleisch war, doch fand ich keinen Weg hinein. Erst nach vielen Fehlversuchen merkte ich, dass man die Beine einfach durchbrechen und somit ans Ziel kommen konnte. Ein ums andere Mal spritze mir das Meerwasser aus den Gelenken der Tiere ins Gesicht, auf die Hose, aufs Hemd. Es muss ein belustigender Anblick gewesen sein. Jetzt aber bin ich eine Erfahrung reicher.
Der Wind hatte mittlerweile aufgehört, so dass ich noch an den Strand ging. In einer Bar lief ein Championsleague-Spiel und ich konnte meine Augen nicht davon lassen. Wohlgemerkt, ich hatte das leise plätschernde Meer im Hintergrund. Erst nach einer Minute begriff ich die Lächerlichkeit der Situation, ich bin kein Fussballfan, das interessiert mich nicht und ich lasse mich trotzdem von der Mattscheibe verführen. Ich wandte mich ab, setzte mich auf einen Felsen und hörte dem Meer zu. Dabei kam mir der Gedanke, dass diese so klare Wahl mir so schwer gefallen war. Noch Jahre würde ich mich an diese halbe Stunde am Meer erinnern, wenn ich schon gar nicht mehr wissen würde, wer da gegen wen gespielt haben könnte. Manchmal ist es schon merkwürdig, wie verblendet wir sind. Die Lösung liegt direkt vor uns, gewaltig und unüberhörbar. Und doch wenden wir uns ab, geben der seichten Versuchung einer völligen Unwichtigkeit nach. Dieses Mal jedoch hörte ich auf meine innere Stimme und verbrachte eine bezaubernde halbe Stunde damit zu, den leisen Wellen zuzuhören. Mit Sicherheit die richtige Wahl.

Tarifa, 12 Uhr. Habe gerade gemerkt, dass auf meinem Ticket das falsche Datum steht. Also renn ich zum Hafen, um den Fehler noch rechtzeitig zu korrigieren. Der Angestellte von FRS schaut mich entspannt an, teilt mir in gutem Englsich mit, dass das Ticket ohnehin ein Jahr gilt. Doch für heute muss er mich enttäuschen, denn was ich als windig empfunden hatte, ist ein waschechter Sturm. Kein Schiff verlässt zur Zeit den Hafen und da für die nächsten beiden Tage das Wetter noch schlimmer werden soll, ist mit einer Überfahrt vor Sonntag Nachmittag nicht zu rechnen.
Ich bin zwar etwas enttäuscht, doch bleibe ich cool. Ich weiß auch nicht, warum mich solche Änderungen immer ein wenig erfreuen, vielleicht ist es für mich die Möglichkeit, aus bereits Geplantem auszubrechen und etwas ganz anderes zu machen. Zwar schaue ich noch etwas wehmütig zurück, sehe auch die afrikanische Küste, doch weiß ich ja, dass ich nur ein paar Tage später ankommen werde. Der Wind macht mir auch wirklich zu schaffen. Anderen auch, denn eine Omi hält sich krampfhaft an einem Mast fest. Ich verstehe nicht, warum sie bei dem Wetter überhaupt vor die Tür geht. Am Camper angelangt, mach ich erst einmal einen Espresso. So denkt es sich ohnehin am Besten. Eile ist jetzt nicht mehr nötig, der Tag ist noch sehr jung und ich horche in mich hinein, was ich machen möchte. Auf die Küste habe ich zurzeit keine Lust, nicht bei dem Sturm. Der Rough Guide zeigt als nächsten Punkt Ronda an, das hört sich gut an. es sind auch nur etwas mehr als 100 Kilometer, es soll nur 1,5 Stunden dauern, um dorthin zu gelangen. Dass das ein Irrtum ist, weiß ich eine Stunde später, denn Ronda liegt in ca. 1000 Meter Höhe. Es ist bereits eine atemberaubende Fahrt, die mir und meiner Transe alles abverlangt. Wir kriechen gemeinsam die steilen Straßen hoch, die Serpentinen nehmen wir mit allergrößter Vorsicht. Hinter uns finden sich meist lange Schlangen von Autos, die wie auf einer Perlenkette dicht an dicht hinter unserer Wuchtbrumme entlang gondeln. Ich kann nichts machen, in aller Ruhe kommen wir langsam Kilometer für Kilometer voran, fahren vorbei an kleinen, weißgetünchten Dörfern. Leider habe ich wegen der Fahrt nicht viel von der Aussicht, aber das beschließe ich nachzuholen. Es dauert natürlich durch den Höhenunterschied viel länger, mehr als 2,5 Stunden, aber das ist mir egal. Plötzlich sehe ich Ronda von weitem. Ich bin auf einer Art Plateau angekommen und spektakulär ist noch ein zu schwaches Wort für den Anblick dieser weißen Stadt, die umgeben ist von Bergen und grüner Natur. Ich checke auf dem örtlichen Campingplatz ein. Die Betreiber nehmen es leider wirklich von den Lebenden. Ich mache mich bald darauf auf den Weg in die Stadt, die der Rouigh Guide als wahres Juwel beschreibt. Er hat nicht übertrieben.

Ronda war lange von den Mauren besetzt, länger sogar als Cordoba und ist erst als eine der letzten Bastionen der Araber im 15. Jahrhundert gefallen. Überall sieht man noch deren Zeugnisse, so zum Beispiel auf dem sehr prächtig gestalteten Plaza Duquese de Parcent, wo die einstige Moschee in eine Kirche umgewandelt wurde. Der Giraldar ist, wie auch in Sevilla, von einem islamischen Gebetsturm zu einem christlichen Glockenturm umfuktioniert worden, zumindest der untere Teil ist maurisch. Das Innere der Kirche spare ich mir, denn die Betreiber des Museums haben den Fehler gemacht, Bilder davon im Vorraum aufzuhängen. Demnach hätte mich eine recht langweilige Barockkirche erwartet, worauf ich nicht unbedingt erpicht bin.
Ich verliere mich also in den Straßen und komme zufällig am Casa del Rey Moro vorbei. Das ist das Eintrittsgeld wert, so etwas habe ich im Gespür. Ich liege richtig. Drinnen erwartet mich ein wundervoller Garten, der trotz der frühen Zeit und noch sehr zurückhaltender Natur sein ganzes Mysterium zeigt. In einem Becken schwimmen riesige Goldfische, ein Brunnen plätschert im symmetrisch angelegten Garten und die Bänke sind mit reich verzierten Kacheln geschmückt. Ich genieße diesen Anblick und kann mich kaum satt sehen. Das ockerfarbene Haus wird gerade renoviert, passt aber in seinem etwas verfallenen Zustand zum Garten und trägt zur mystischen Atmosphäre bei. Weiter hinten erwartet mich die sogenannte Mina, ein in Stein gehauener Weg zum Fluss. 365 Stufen laufe ich nach unten, stehe schon bald am Wasser. Es ist atemberaubend, denn jetzt erst merke ich, dass die Stadt durch eine tiefe Schlucht zweigeteilt ist. Leider muss ich die Treppen auch wieder hinauf, was ich abends in den Oberschenkeln deutlich spüren werde. Doch ist es ein echtes Erlebnis.
Überall in der Stadt sind noch die Reste der Verteidigungssysteme zu sehen, die einmal fast unüberwindlich gewesen sein müssen. Von einem Garten aus habe ich einen großartigen Blick auf die Ponte Nuevo, die wie ich schätze, hundert Meter über dem Wasser aquäduktartig angelegt ist. Es ist kaum zu beschreiben, wie großartig das aussieht. Die weißen Häuser kleben förmlich am Felsen. So habe ich mir immer Arkadien vorgestellt. Die antiken arabischen Bäder sehe ich nur von weitem, denn ich habe nach dem ganzen Auf und Ab nicht mehr die Energie, sie auch noch zu sehen. Aber man soll ja immer noch etwas für später aufheben.
Zwar habe ich es heute nicht nach Marokko geschafft, doch bin ich wirklich entschädigt worden. Ich zweifle nicht eine Sekunde daran, dass das der Sinn der Sache gewesen ist. Manchmal führen uns unsere Wege um etwas herum, um uns etwas anderes zu zeigen. Das habe ich heute sehr deutlich begriffen.