Meknes
Nach einer kalten Nacht wachte ich gestärkt auf. Auch wenn mir der Tag gestern kräftemäßig gut getan hatte, merkte ich doch, dass ich noch nicht wieder komplett hergestellt war. Meine Konzentration ließ noch immer zu wünschen übrig, was bei mir immer ein Zeichen von Müdigkeit ist. Sefrou ließ ich hinter mir, viel hatte ich von diesem kleinen Städtchen nicht gesehen, doch konnte ich es eben nicht ändern. Ebenfalls hatte ich die Kaskaden ignoriert, Wasserfälle, die mir eigentlich von Marokkanern empfohlen worden waren. Auch das muss warten. Wieder fuhr ich langsam gen Féz, das ich erst gestern verlassen hatte, auch wenn es mir vorkam wie eine Ewigkeit. Für die ca. 50 Kilometer nach Meknes brauchte ich eine ganze Weile, weil viele Autos hier einfach so alt und im Grunde kaputt sind, dass sie kaum mehr als 50 Km/h schaffen, oft auch sehr viel weniger. Diese „Bremsen“ erst einmal zu überholen, stellte sich oft als schwieriger heraus als angenommen, denn normalerweise ist die Transe die Bremse und nicht die anderen. In der ungewohnten Rolle als Verfolger fühlte ich mich nicht unbedingt wohl, doch tat ich, was ich tun musste, ohne dabei andere oder mich zu gefährden. In Meknes stockte der Verkehr, aus dem Grund, weil es bei einer ganzen Reihe von Ampeln kein erkennbares System gibt. Kaum fuhr ich los, schaltete die Ampel hundert Meter vor mir auf Rot. Und ich dachte, das wäre nur in Berlin so. Schließlich hatte ich mich auch hier durchgekämpft und war auf dem Weg nach Volubilis, noch nicht recht wissend, was ich eigentlich wirklich heute vorhatte. Zehn Kilometer vor meinem Bestimmungsort fand ich den Campingplatz und war nun wirklich in der Bredouille. Auf der einen Seite stand Meknes, die letzte Königstadt, die ich noch nicht gesehen hatte. Auf der anderen Seite Volubilis, eine Römerstadt, die von der Unesco geschützt ist und – nachdem ich das nördliche Pendant, Hadrians Wall, vor fast vier Jahren erkundet hatte – ein weiteres imperiales Juwel in meiner Sammlung antiker Zeugnisse, diesmal ganz im Süden. Weiter sind auch die Römer nicht gekommen. Schotten, Berber, Germanen, anscheinend sind es die wildesten Völker, die der römischen Zivilisation Grenzen gesetzt haben.
Ich horchte in mich hinein, stellte zu meinem Leidwesen fest, dass ich keine Lust auf weitere römische Ruinen hatte. Also Meknes, das letzte Bollwerk, die letzte große Attraktion, die ich in Marokko noch vorhatte zu sehen. Es mussten an die 20 Kilometer gewesen sein, die ich gerade von dort aus bis zum Campingplatz zurückgelegt hatte. Warum ich jetzt auf die Idee kam, mein Rad ab zuschnallen, um dieses Transportmittel für den Besuch zu benutzen, wird wohl für immer ein Mysterium bleiben, vor allem für mich. Ich erinnerte mich kaum an die Strecke, obwohl ich sie gerade erst gefahren war. Nur dass sie ziemlich hügelig gewesen war, das wusste ich noch.
Der erste Kilometer ging es nur bergab. Trotz eines kleinen Teilstückes, an dem ich ein wenig bergauf fahren musste, konnte ich kurze Zeit später das Rad wieder den Hügel hinablaufen lassen. Leider blieb es nicht so. Die Anstiege waren in meiner Verfassung zu herausfordernd, mein Stolz, die gesamte Strecke zu radeln, schmolz in der Mittagssonne dahin wie Butter in den Dünen von Erg Chebbi. Ich schob die schwierigsten Passagen einfach, auch wenn Einheimische hämisch feixten, wenn ich an ihnen vorüberlief. Ich muss mehr als eine Stunde unterwegs gewesen sein, war froh, es endlich geschafft zu haben. Die Gedanken an die Rückfahrt ließ ich beim Fahrrad zurück, dass ich außerhalb des Zentrums angekettet hatte. Dafür war nachher noch Zeit genug.
Die Medina von Meknes ist übersichtlicher und damit leichter navigierbar als die von Féz oder Marrakesch. Auch war es um diese Zeit, ca. 14 Uhr, beinahe ausgestorben. Sicher eine ausgiebige Mittagspause, die ich jedem gönne, doch war es etwas schade, denn es war ja meine letzte Medina. Ein Händler versuchte mich dennoch, in eine bestimmte Richtung zu schieben, ich bedankte mich, lief aber weiter. Zwei Minuten später lief ich an seinem Geschäft vorbei, er versuchte mich, hineinzuziehen. Wie er es geschafft hatte, vor mir dort zu sein, ist mir ein Rätsel, letztlich kennt er die Stadt besser als ich, also kein Wunder. Ich fand das Bab el-Mansour und den Place el-Hedim, das Herzstück der Medina. Das Bab el-Mansour ist das schönste königliche Tor, bestens erhalten und reich verziert. Der Place führt weitläufig auf dieses Tor zu. Viel Zeit hatte ich nicht, nur wenige Stunden, die wollte ich so gut nutzen wie möglich. Eines musste ich unbedingt sehen, die Grabstätte von Moulay Ismail, einem der bedeutendsten Herrscher Marokkos, ein Haudegen, der im 17. Jahrhundert den damaligen europäischen und afrikanischen Reichen eindrucksvoll gezeigt hat, wer in Marokko das Sagen hatte. Die Grabstelle erinnert eher an einen Palast, durch helle Höfe, zum Teil mit Springbrunnen, erreicht man das Mausoleum. Man darf es betreten, allerdings ohne Schuhe. Wie zu erwarten war, ist das Mausoleum prächtig geschmückt, diverse Steinmetzarbeiten verzieren die Wände, die Decken sind aus Holz, kunstvoll verschachtelt. Den Raum mit den Gebeinen darf man nicht betreten, nur hinein sehen. Es ist eine ungemein friedliche Atmosphäre in einem hellen Gebäude, anders als die Grabesstimmungen auf unseren Friedhören. Fast war ich geneigt, mich zu setzen und einen Minztee zu trinken, doch hielt ich es für besser, nicht darauf zu bestehen.
Den Minztee trank ich dann auf dem Place el-Hedim, bevor ich mich zur Medersa aufmachte. Ich folgte dabei einer englischen Reisegruppe und deren Reiseführerin. Auch wenn ich nicht dazugehörte, fühlte ich mich doch wohl unter diesen Menschen. Sie repräsentieren für mich ein Stück Heimat, etwas, dass ich gefunden und wieder aufgegeben hatte, doch nach dem ich mich trotzdem zurück sehne. Es ist merkwürdig, dass ich das hier, in einem ganz anderen Winkel dieser Welt, wieder so stark empfinde, doch kann ich es nicht leugnen. Meine Jahre in England gehören zu den glücklichsten, die ich bislang erleben durfte, ein wenig Sehnsucht ist da sicher erlaubt.
Die Medersa ist letztlich genauso aufgebaut wie diejenige in Marrakesch, ein großer, reich verzierter Hof in der Mitte, drum herum die Zellen der Schüler, das alles auf zwei Etagen. Herrlich empfand ich hier die Terrasse, zwar war die Aussicht etwas limitiert, doch etwas bekommt man schon von Meknes mit. Hier war es auch, dass ich das erste Mal so etwas wie Wehmut empfand. Wehmut, dieses Land in wenigen Tagen verlassen zu müssen. Es ist gut und auch der richtige Zeitpunkt, das weiß ich, denn ich bin noch hungrig. Und es ist immer besser, einen Ort nicht völlig satt zu verlassen, das erhält das Leuchten in den neugierigen Augen. Es war jetzt fast fünf, die Stunden hier waren wie nichts verflogen. Ich fand nach einigem Suchen mein Rad und machte mich auf die Heimfahrt. Sie wurde genauso schwierig wie die Hinfahrt, kaum 100 Meter am Stück, die nicht bergauf oder -ab gingen. Ich verfluchte die Entscheidung, nicht mit Auto gefahren zu sein. Meist schob ich, auch auf den ebenen Strecken, denn längst hatten mich die Kräfte verlassen. Schon wieder. Irgendwann erreichte ich den Campingplatz, es war ein erhebendes Gefühl. Jetzt sitze ich mit schmerzenden Beinen im Camper, kämpfe bereits um acht mit der Müdigkeit und stelle fest, dass das Schieben eines Rades auf Dauer Muskeln im Oberkörper beansprucht, von denen ich bislang keine Ahnung hatte, dass sie existieren.
Ich weiß noch nicht, was ich morgen mache, ein Teil von mir möchte Volubilis noch sehen, ein anderer einfach nur an den Strand fahren.
Ich vertage die Entscheidung auf morgen, das ist in müden Momenten auch besser so.