Imst
Ich schreibe einmal wieder einen Tag später. Oder besser, ich lasse einen Tag aus. Gestern ist nichts geschehen, weil es regnete. Den ganzen Tag lang. Ich fürchte, dass die Wandersaison bald schon vorbei sein wird, denn die Schneefallgrenze ist sichtlich niedrig. Dabei muss ich gestehen, dass es etwas Besonderes hat, die Berge auf diese Weise zu sehen. Denn noch zeigt sich die Natur in grünsten Farben, satt und gesund und macht noch keine Anstalten, herbstlich auszusehen. Diese Mischung dann, zusammen mit dem Schnee und den tiefen Wolken lässt die Gegend geradezu geheimnisvoll aussehen. Doch gestern waren keine großartigen Aktionen möglich. Der Regen knallte gegen den Camper, und als ich es wagte, doch einmal für einige Stunden spazieren zu gehen, wurde ich mit beinahe abgefrorenen Händen belohnt, die sich krampfhaft an den Regenschirm klammerten. Ich schaffte es bis zu einem Einkaufszentrum, das genauso langweilig ist wie eines in Deutschland. Doch ein Gang durch einen Obi-Baumarkt stattete mich mit einigen Ideen für den Innenausbau der Wohnung aus. Es war alles in allem ein wirklich ruhiger Tag, an dem ich wenigstens zum Arbeiten kam. Eigentlich ist es fast besser so, denn ich komme somit dazu, meinen Roman endlich in der Rohfassung zu beenden. Eigentlich sind es nur noch die letzten Seiten, die ich schreibe, denn es ist fast vollbracht. Auch wenn die Story so viele Schwächen aufweist, bin ich doch dieses Mal sehr stolz, es geschafft zu haben. Ich muss auch die Erfolge feiern dürfen, selbst wenn sie nur klein und unbedeutend sind.
Heute machte ich es genauso, ich schrieb erst am Vormittag, ohne Hatz und Stress, was mir sehr gut tut. Es regnete nicht, aber die Temperaturen sind noch sehr niedrig. Meine neuen Handschuhe vom Discounter waren jetzt sehr hilfreich, um aus dem Tag noch etwas zu machen. Ich wollte wenigstens noch ein bisschen wandern. Die Höhen lagen alle unter Wolkendecken, und als diese kurz aufriss, offenbarte sich der Schnee, so dass eine Gipfeltour heute nicht möglich war. Sicher war es ohnehin bereits zu spät. Also entschloss ich mich, die kleine Wanderung durch die Rosengartenschlucht zu unternehmen. Ich habe sie so eingeschätzt, dass ich mich nicht vorbereitet habe. Ich hatte weder Wasser dabei, noch eine meiner Wanderkarten. Noch hatte ich mich umgezogen, bin mit der einzigen, sauberen Hose aufgebrochen. So viel zu Selbstüberschätzung. Zum Glück stellte sich die Wanderung wirklich nur als recht mäßig heraus, auch wenn die Szenerie mitunter spektakulär war. Das lag an den Regenfällen und der heute einsetzenden Schneeschmelze in den Höhen, denn der Bach, der durch die Schlucht floss, glich eher einem reißenden Fluss. Die Wasserfälle stürzten ins Tal, so dass es eine wahre Freude war. Immer wieder sah ich aus der Ferne den Tschirgant. Gipfel, ob erfolgreich erklommen oder nicht, haben etwas Anziehendes. Es ist, als ob sie rufen. „Hier oben warst du.“ Oder, wie in diesem Fall: „Ich bin noch da. Willst du es nicht noch einmal probieren?“
Ja, das würde ich gerne. Es sind Herausforderungen, von denen ich nicht sicher bin, ob ich sie im Augenblick bewältigen kann. Es ist trotzdem schön, diesen Ruf zu vernehmen. Es sind aber nicht nur die Gipfel, die rufen. Auch die Orte, die ich letztes Jahr besucht habe und von denen manche in meinen Büchern auftauchen. Zumindest in Ansätzen. Manchmal sind es Straßenzüge, manchmal Bergabschnitte beim Wandern. Die letzten beiden Jahre waren schon ein Rausch des Lebens, mit Bildern und Worten, die ich für mich aufgenommen habe. Manchmal frage ich mich, ob es jemanden geben wird, der sich das alles einmal durchliest. Wahrscheinlich nicht, aber wer weiß. Ich habe jedenfalls meine helle Freude daran, wieder in diese Tage einzutauchen.
Das Journal jedoch kann ich nur auf Reisen fortführen. Manchmal habe ich es versucht, auch zu Hause aufzuschreiben, was ich den Tag über erlebt habe. Aber außer unausgegorenen, halbphilosophischen Gedanken, die es nicht wert waren, auf Papier gebracht zu werden, habe ich nichts zustande gebracht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht entdeckt eines Tages, in einigen Hundert Jahren, jemand diesen Laptop und wertet die Festplatte aus. Das wäre doch eine Art, doch noch etwas zu hinterlassen, auch wenn ich im Hier und Jetzt nichts davon haben würde.
Aber lieber konzentriere ich mich darauf, es jetzt unter die Leute zu bringen. Wäre doch jammerschade um all die Gedanken, die wahrscheinlich niemand lesen möchte. So zumindest nimmt meine nähere Umgebung auf, was ich kreiere. Ich kann nicht erwarten, dass sie es lesen. Mal sehen, ob sie es tun, wenn ich erst einmal erfolgreicher Autor bin. Dann werde ich mich hoffentlich dieser Zeilen erinnern. Denn ein wenig rachsüchtig und vor allem nachtragend bin ich schon.