Florenz

Es kommt immer anders, als man denkt, vor allem wenn ich am Werk bin. Der Morgen war kälter als vorher. Der Wind, der noch mehr auffrischte, war eisiger, kühlte den Camper und mich aus. Das ist mitunter anstrengend, selbst im Schlaf, den ich merke die Veränderung der äußeren Umstände trotz der warmen Decken. Gestern las ich im Café online die Tageszeitung. Ich kann es mir jetzt kaum vorstellen, doch wenn ich meiner Route gefolgt wäre, wäre ich jetzt in Ägypten. Dort brennt das Land, Jahrhunderte der Unterdrückung haben die Spannung ins Unermessliche getrieben. Gierige Staatsmänner, die nicht von der Macht haben lassen können, bekommen in Nordafrika gerade die Quittung für ihre Grausamkeiten. Zehntausende gehen auf die Straße, die Regierung reagiert nervös, d.h. gewalttätig. Es ist Zeit für Veränderung. Nordafrika, immer schon näher an Europa als am schwarzen Kontinent, strebt nach Demokratie. Natürlich geben die sturen alten Herren nicht einfach auf. Die Straße brennt. Und ich bin nicht da, zum Glück.

Stattdessen sitze ich in Florenz, ein hartes Schicksal. Heute wollte ich etwas unternehmen, dass ich oft in meiner Zeit in Florenz getan hatte. Unweit des Piazzale di Michelangelo befindet sich die schönste Kirche von Florenz, vielleicht die weltweit schönste, soweit ich das sagen kann. San Miniato al Monte ist nur einige Gehminuten vom Piazzale entfernt, doch noch immer ist es eine Art Geheimtipp, denn wenige Touristen im Vergleich zum Rest der Stadt finden ihren Weg hierher. Es ist ein wahres Schmuckstück, toskanisch-romanisch. Die Fassade ist von vielen Punkten der Stadt aus zu sehen, daher wundert es mich immer wieder, dass kaum jemand herkommt. Schon die strenge, marmorne Fassade ist ein Gedicht. Im Gegensatz zu der am Dom ist sie historisch aus dem Mittelalter. Aufgebrochen wird sie durch ein herrliches Mosaik hoch oben. Dadurch verliert sie ihre strenge Ordnung. Im Innern kommt einem die mystische Atmosphäre förmlich entgegen, die prächtigen Säulen, wahrscheinlich aus römischer Zeit, die gewaltigen Bögen und die verzierte, hölzerne Decke machen aus dem Gebäude eine harmonische Einheit, die man selten findet. Trotz der kühlen Strenge befinden sich hier so viele Details, die man bewundern kann. Mir fiel der Boden auf, besonders der Teil, der auf den Altar zustrebt. Ein steinerner Teppich, gewebt aus marmornen Mosaiksteinen, führt einen in die Mitte der Kirche. Ich lief danach in die Krypta, die noch düsterer ist, aber eher heilig als unheimlich ist. Hier liegen die Gebeine des heiligen Miniato. Angeblich.

Ich hielt mich eine Weile hier auf. Schon bei meinem ersten Besuch San Miniatos vor 17 Jahren hatte ich die einmalige Atmosphäre gespürt. Diese ist in all der Zeit nicht verloren gegangen. Damals habe ich einen Tausend-Lira-Schein hier gefunden. Ich hatte angenommen, dass es sich um eine verloren gegangene Spende gehandelt hatte, daher habe ich einen mehrfachen Betrag in die Box geworfen. Damals war ich noch nicht so geizig. Den gefundenen Schein aber trage ich seither n meiner Brieftasche. Ob er mir Glück gebracht hat oder nicht, weiß ich nicht zu sagen. Ich denke schon.
Nach der Besichtigung der Kirche schaute ich mir noch den Friedhof an. Auch dieser Ort gehört sicher zu den atmosphärischsten in Florenz. Eine Grabstelle fiel mir besonders auf. Zwei steinerne Menschen stehen sich gegenüber, ein junges Paar, er in schmucker Uniform, sie in eng anliegendem schlichten Kleid. Es sieht so aus, als ob die beiden sich gerade ineinander verliebt hätten, beide lächeln, sehen ihre Umgebung nicht, sie sind sich selbst genug. Ich schaute auf die Namen der beiden. Leider ist das zusammen mit dem Zeitpunkt der Geburt und des Todes das einzige, das man erfahren kann. Aber schon das spricht Bände. Er starb 1944, in den Zwanzigern, sie folgte ungefähr ein Jahr später. Man kann sich nicht vorstellen, was geschehen sein könnte, nur vermuten. Die Angehörigen haben dem Paar ein Denkmal gesetzt, das den Moment zeigt, in dem beide noch an eine Zukunft zusammen glauben. Die gab es nicht, zumindest nicht lange. Diese Statue machte mich sehr nachdenklich und ich frage mich, ob wir das, was wir haben, überhaupt zu schätzen wissen, solange wir uns für unsterblich halten. Jedenfalls kann man sich die Geschichte des Paares ausdenken. Eine Geschichte voller Romantik und Liebe, die durch unglückliche Umstände im Zweiten Weltkrieg so jäh unterbrochen wurde. Wie die Wahrheit aussah, steht nicht geschrieben. Ist auch nicht so wichtig.

Nach diesem nachdenklichen Ereignis machte ich mich auf den Weg zum Torre de Gallo. Hier, am absoluten Rand von Florenz, war ich häufig, bin auf nur Einheimischen bekannten Wegen gewandelt. Ich hatte den Weg allerdings etwas idyllischer in Erinnerung, vielleicht lag es daran, dass heute einige Autos hier entlang fuhren. Auch fand ich meinen alten Pfad nicht mehr wieder. Zwar sah ich zwischen den Baumwipfeln den Torre, aber irgendwo bog ich falsch ab. Bald darauf war ich beinahe wieder in der Stadt, kam an der Porta Romana heraus. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung zum Zentrum. Einer Eingebung folgend entschied ich, mittags eine Pizza essen zu gehen. Ich fand eine Pizzeria, Gustapizza, die authentisch aussah. War sie allerdings nicht, auch wenn es ein geschmacklicher Höhepunkt wurde. Ich bekam eine echte Steinofenpizza mit noch knackigem Rucola, dazu einen Plastikbecher Rotwein. Letzterer war ein Fehler, denn mittags werde ich doppelt so schnell betrunken im Vergleich zu abends. So schreibe ich heute also mit einem leichten Schwips, man möge mir verzeihen. Mache ich normalerweise nicht, weil ich weiß, dass meist nur Unfug herauskommt. Trotzdem, es hat sich gelohnt. Danach wechselte ich in ein Café, wo ich immer noch sitze und versuche, dieses Journal weiter zu führen.

Morgen fahre ich weiter. Bis nach Frankreich sind es noch ca. 400 Kilometer, ob ich die Morgen schon schaffe, kann ich noch nicht sagen, denn die ligurische Küste ist anstrengend zu fahren.
(Anmerkung ein Jahr später: Zum Glück wusste ich nicht, dass dies der letzte ernsthafte Tag meiner Reise sein würde. Ich empfinde das heute als Segen.)