Gaucin & Jimena de la Frontera
Ich wache auf und merke, dass wir uns doch einige Hundert Meter höher befinden als gestern, denn es ist empfindlich kühl. Und nicht viel weniger windig als gestern, was ich als ausgesprochen anstrengend empfinde. Laufend weht es mir kräftig um die Ohren und der Aufenthalt im Freien ist mir fast unmöglich. So mache ich es mir fürs Frühstück im Camper bequem und sehe einer verrückten, deutschen Familie zu, wie sie bei dem Wetter mit aller Macht versucht, vor ihrem Familienzelt, das sich bereits bedenklich zur Seite neigt, draußen zu frühstücken. Die Kinder machen noch recht gute Miene zu diesem Spiel, die Erwachsenen sind sichtlich genervt. Das Leben in einem Camper kann so schön bequem sein.
Ich entscheide mich, wieder einige Kilometer in Richtung Küste zurückzufahren, um heute ganz in Ruhe etwas von der Landschaft zu genießen, an der ich gestern so konzentriert und angestrengt vorbei gefahren bin. Es ist wirklich so atemberaubend, wie ich es ansatzweise in Erinnerung hatte. Ich bleibe hier und da stehen und betrachte einfach nur das Szenario. Ich bin hoch oben in den Bergen, schaue hinab in die Täler, die sich steil unter mir befinden. Hier und da klebt ein Dorf an einem Hügel, man sieht es von Weitem.
Meinen ersten echten Halt mache ich in Gaucin, die 35 Kilometer von Ronda aus haben mich fast eine Stunde reine Fahrzeit gekostet. Ich habe jedoch keine Eile, denn es ist geschenkte Zeit an einem Ort, den ich auf meiner Fahrt nicht besucht hätte. Garcin ist eines diese kleinen, weiß getünchten Städtchen, die ich vorher nur von Weitem gesehen habe. Ich liebe es, die schmalen Gassen entlang zu laufen, immer auf dem Weg nach oben. Die münden irgendwann in einer wildromantischen Burgruine, die inzwischen von der Natur zurückerobert wird. Sie krümelt vor sich hin, ist überwachsen mit allen möglichen Pflanzen und macht sie deshalb umso reizvoller. Der Ausblick auf die Berge und die Täler ist von hier aus noch dramatischer, aber vielleicht ist es auch nur dieser Ort, der meinen Blick noch mehr schärft als sonst. Ich bin froh, dass ich mir noch mal Zeit genommen habe, mir diesen Naturpark etwas näher anzuschauen und würde eigentlich gerne etwas wandern. Doch mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass das Wetter es nicht zulässt. Zu windig. Schon die Transe hatte enorme Schwierigkeiten, auf der Straße zu bleiben, wie soll ich dann einen steilen Gebirgspfand hinaufklettern? Dafür wird später auf der Fahrt woanders immer noch Zeit sein, meinen selbst geschnitzten Wanderstock aus englischem Holz (keine Ahnung welchem) habe ich jedenfalls dabei. Aber von ihm werde ich hier noch nicht Gebrauch machen.
Ich fahre also weiter Nach Jimena de la Frontera, wo ich mich durch die engen Straßen zum Campingplatz durchkämpfe. Selbst schuld, denn wäre ich eine Abfahrt vorher abgefahren, wäre mir dieser anstrengende und nervenaufreibende Weg erspart geblieben. Der Platz ist etwas simpler als der Letzte, für mich genügt er vollkommen. Ich mache mich sofort auf in Richtung Stadt und sitze jetzt hier in einem Café und schreibe. Das könnte ich den ganzen Tag machen.
Die Verbindung mit dem Internet funktioniert nicht, dabei wird mir langsam klar, wie abhängig ich bereits von den Neuen Medien bin. Warum halte ich es nicht aus, einmal ein paar Tage nicht mit dem Netz in Verbindung zu stehen? Kommen meine Verwandte, die ich auch in Berlin nur wochen-, wenn nicht gar monatsweise sehe, nicht ohne eine Nachricht von mir aus? Klar, mit Nina bin ich in Kontakt, aber wir machen das seit Anbeginn unserer Beziehung per SMS. Sie weiß, dass ich mich alle paar Tage melde, das reicht doch auch. Aber zurück zu meiner Abhängigkeit. Vor ein paar Jahren noch war ich ähnlich abhängig vom Fernseher, konnte diese vermaledeite Kiste gar nicht ausgeschaltet lassen. Selten kam etwas Interessantes, meine wertvolle Zeit ging trotzdem dabei drauf. Also habe ich sie abgeschafft und vermisse sie nicht. Muss ich auch nicht, denn ich habe eine Abhängigkeit mit einer anderen getauscht. Denn heute ist es das Internet. Stunden verbrachte ich zu Hause davor, ließ mich ablenken, surfte und las die unwichtigsten Dinge, die man nur lesen kann. Diese Reise ist also ein weiterer Segen, denn das Internet steht nicht oft zur Verfügung. Ich reiße mich also auch von dieser Plage langsam los und hoffe, dass ich eines Tages einmal so weit bin, diese fantastische Errungenschaft verantwortungsvoll zu nutzen. Denn besonders zu Recherchevorhaben ist es ein Segen und bei der Vorbereitung der Reise hielt es einen unverzichtbaren Schatz an Wissen bereit, in den ich gerne eingetaucht bin. Ab und an werde ich sicher online sein, aber für den Moment besteht eigentlich keine zwingende Notwendigkeit. Meine Zeit kann ich also mit dem Lesen und Schreiben verbringen.
Und das finde ich gut so.
Gaucin
Nachmittags bin ich dann noch ein wenig durch Jimena gestreift, habe auch die Burgruine besucht. Es muss einmal eine beeindruckende Anlage gewesen sein. Die Mauren haben auf den römisch-byzantinischen Grundmauern ihre eigene Burg errichtet. Besonders das Eingangstor mit seinem arabischen Bogen hat mir gefallen. Die Anlage steigt Richtung Burgturm immer weiter an, oben hat man einen fantastischen Ausblick auf die Stadt und die umliegenden Berge. Schon allein deshalb lohnt sich der Aufstieg.
Die römischen Zisternen sind ebenfalls noch erhalten, eigentlich waren sie abgesperrt, zumindest sah es so aus. Ich ging trotzdem, obwohl ich an einer Stelle eine kleine Steilstelle überwinden musste. Jedem anderen würde ich von dieser Tollkühnheit abraten. Ich selbst kann es aber selten lassen. Letztlich ist es die Idee, Dinge doch von Nahem zu betrachten, obwohl es in diesem Fall auch ein Blick von Weitem getan hätte.
Als ich gerade auf dem Rückweg von der Zisterne war, sah ich auf dem Boden eine Scherbe. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich auf einer Unzahl von verschiedenartigen Tonscherben stand, die ich jetzt der Reihe nach zu betrachten begann. Einige hatten Glasuren, andere waren schlichter, keine gehörte jedoch zusammen, zumindest nicht für mein ungeübtes Auge. Für einen Archäologen wäre es sicher eine Fundgrube gewesen, sind doch Tonscherben der Schlüssel zur zeitlichen Lokalisierung eines Fundortes, habe ich zumindest einmal gelesen. Vielleicht war es jedoch nur eine Art Müllhalde und ich stöberte gerade in einem Abfallhaufen herum. Ich möchte etwas anderes glauben, nahm eine kleine Scherbe als Andenken mit, die ich zu den Pflanzen gesellte, die ich bislang gesammelt habe. Ich weiß, das soll man nicht machen, weil man einen archäologischen Fundort stört, doch dieses eine kleine Stück wird diesen einsamen Ort sicher nicht beschädigen.
Später, eher gegen Abend, habe ich mich doch noch zu einem Spaziergang in den Bergen aufgemacht. Zwar war es immer noch windig, aber ich brauchte ein wenig Bewegung. Ein recht steiler Weg führte mich zu einem Weg, von dem aus ich einen wundervollen Blick auf die Burganlage Jimenas hatte, die sich jetzt in einigen Kilometern Entfernung befand. Eigentlich wollte ich diesem Weg noch ein wenig weiter folgen, doch sah ich in ca. Hundert Metern Entfernung einen jungen Stier stehen. Der hatte mich auch bereits gesehen. Ich bin geborener Städter und habe sicher keine Erfahrung, ob das Vieh harmlos ist oder nicht. Ich ließ es nicht darauf ankommen und drehte um, denn Auge in Auge mit einem Stier zu stehen. überlasse ich lieber den Toreros.
Ich lese zurzeit die Autobiografie Ghandis, von der ich zugeben muss, dass sie mich sehr berührt. Es ist kein Buch, dass ich in einem Stück durchlesen kann, denn dann neige ich dazu querzulesen, was hier das Risiko birgt, wichtige Worte zu verpassen. Eine Stelle hat es mir heute besonders angetan. Ghandi trifft den Dichter Raychandra, und zitiert einen Absatz aus seinen Schriften:
„Nur dann soll ich mich für gesegnet halten, wenn ich Gott in jeder meiner täglichen Verrichtungen sehe ….“
Der machte mich nachdenklich und ließ mich über die jetzige Situation reflektieren. Selten habe ich auf solch natürliche Art gelebt wie jetzt gerade in diesem Moment. Selten hatte ich das Gefühl, so nah an mir selbst und somit an Gott dran zu sein. Ich erlebe die Welt, versuche sie zu beschreiben und aus ihr zu lernen. Gewinnt nicht damit der Satz des indischen Dichters gerade eine besondere Bedeutung für mich? Ich setze Gott gleich mit der Schönheit, die wir zu entdecken suchen. In unserer Umgebung und natürlich in uns selbst. Wenn das so ist, sehe ich gerade sehr viel Schönes, bereits jetzt zu Beginn der Reise. Ich werde mir den Satz merken und versuchen, weiter zu verstehen, indem ich mich selbst immer besser verstehen lerne. Eines weiß ich bestimmt: Noch nie fiel mir das Schreiben so leicht wie im Augenblick. Ich werde es fortsetzen und mir den Luxus gönnen zu beobachten, wohin es mich führt.