Murcia

Ich sitze in einem Café in Murcia, es ist erst kurz nach 14 Uhr und eigentlich möchte ich schon weiter.
Gestern hat mich meine alte Leidenschaft einmal wieder angesteckt und mir ein gehöriges Stück Zeit abgenommen. Durch den leichten Zugang zum Internet habe ich viel zu viele Stunden vor der Mattscheibe zugebracht. Ich komme einfach nicht davon los, was ich als echtes Problem ansehe. Schon hoffe ich, in den nächsten Tagen kein Wifi auf den Campingplätzen vorzufinden, zu schade ist mir eigentlich meine Zeit. Warum bekomme ich das nicht in den Griff, kann nicht einfach abschalten, wenn ich recherchiert habe, was ich brauche? Mit Fernsehern war es genauso, die liefen immer, egal ob etwas kam oder nicht. Das Ende vom Lied war die vollkommene Abschaffung dieses Mediums. Ich hoffe, dass ich das Gleiche nicht auch mit dem Internet machen muss. Denn mein Verhalten erinnert schon sehr an unkontrollierte Sucht, auch wenn ich es ungern zugebe. Alles leidet, wenn ich online bin – ich schreibe weniger, lese weniger, mache allgemein weniger. Das gefällt mir nicht und ich werde nach einem Weg suchen müssen, das abzustellen. Ich hoffe nicht, dass es wieder der harte Weg der vollkommenen Entsagung sein muss. Aber wenn nötig, wird er es sein.

Heute Morgen lief alles sehr glatt, trotz einer späten Bettruhe war ich weit vor neun auf den Beinen, checkte zeitig aus und stotterte mich langsam die Berge hinunter. In Murcia suchte ich wieder einmal lange nach einem Parkplatz, scheint in Spanien ein echtes Problem zu sein, doch irgendwann hatte ich Glück. Das hielt mich aber fürchterlich auf, so dass es bereits weit nach zwölf war, als ich mich in die Stadt aufmachte. Anscheinend also eine Zeit, in der die wenigen Attraktionen Murcias gerade im Begriff waren, für die Mittagszeit zu schließen und nicht vor 17 Uhr wieder zu öffnen. Die Stadt machte auf mich an sich einen angenehmen Eindruck, es geht geschäftig zu hier, die Atmosphäre erinnerte mich an Salford Quays in Manchester zur Lunchzeit. Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen strömten aus den Büros. Auch Murcia selbst scheint mir eher zweckmäßig angelegt, viele schnörkellose Wohngebäude mischen sich unter die älteren, grandiosen Bauwerke. Zwei Attraktionen wollte ich sehen, die eine konnte ich nicht, die andere wollte ich dann nicht mehr. Der phallische Kathedralenturm, von dem aus man den besten Panoramablick genießen kann, war geschlossen, als ich ihn endlich gefunden hatte. Das Casino, das bereits von außen einen exotischen Eindruck machte und von innen sicher ein erstaunliches Juwel sein soll, kostete fünf Euro Eintritt, so dass ich dankend verzichtete. Wahrscheinlich auch, weil ich mich in dem Prunk der Reichen und Schönen schon von außen extrem unwohl fühlte.

So stand ich da und musste umdenken. Warum also nicht das Museum des belles Artes? Nach einigem Suchen fand ich es auch. Erstaunt führte man mich in einen Saal mit einigen merkwürdigen Bronzestatuen, dem einzigen Saal in diesem Gebäude, der für mich zugänglich war. Diese Richtung der modernen Kunst kann ich für gewöhnlich wenig abgewinnen, doch hier hat es der Künstler, dessen Name ich vergessen habe, fertiggebracht, Bewegung und Anmut in die gesichtslosen Körper zu gießen. Geschafft hat er das durch die geschickte Ausnutzung von Kurven aller Art.

Als ich das Gebäude verließ, fand ich das echte Museum, es hatte mich bereits gewundert, dass der Rough Guide es für nur einen einziger Saal erwähnt, zumal er eigentlich eine ganze Reihe von Rennaissancegemälden versprochen hat. Diese Artefakte befanden sich in einem anderen Gebäude. Lange Zeit schon war ich nicht mehr in einer Gemäldegalerie gewesen und wahrscheinlich habe ich verlernt, gemalte Kunst anzuschauen. Zwar blickte ich auf viele Bilder, doch sagten sie mir nichts. Noch vor Jahren hätte ich hier Stunden verbracht, doch heute schien alles zweidimensional und eintönig. Vielleicht lag es an der verstörenden zeitgenössischen Kunst, die zwischen den viel älteren Gemälden gezeigt wurde. Grausige Musik ertönte, dazu liefen Filme, die eine Frau mit Schweinemaske zeigte. Auch ein roter Plastiksarg war involviert. Ich hielt das alles für recht geschmacklos, aber Sinn für moderne Kunst habe ich noch nie entwickeln können. Trotdem: Jedem das Seine.
Die schönsten Gemälde fand ich in der dritten Etage, Ex- und Impressionisten haben mir immer schon gefallen. Auch einige romantische Kupferstiche waren dabei, die die ewige Stadt zeigten. Das versöhnte mich etwas mit diesem merkwürdigen Museum. Ich fand Zeit, mich einfach hinzusetzen und ein wenig nachzudenken. Vielleicht habe ich meinen Sinn von dieser Kunst ein wenig entfremdet und widme mich völlig unbewusst eher derjenigen der Schriftsteller. Ich merke, dass ich analytischer lese als früher, mir ansehe, wie andere es machen. Es ist vielleicht ganz gut, sich zu konzentrieren, doch will ich anderes nicht aus den Augen verlieren.
Ich denke, lange werde ich hier nicht mehr aushalten. Vielleicht ist es Zeit, nach Alicante weiter zu fahren. Jetzt ist Murcia fast wie ausgestorben, kaum jemand ist noch unterwegs. Nach meinem Abstecher in die Berge ist heute also wieder das Meer an der Reihe. Eigentlich eine schöne Idee.

Es ist jetzt später, viel später Ich bin davon überzeugt, dass es auf dieser Reise eine Art Zeitdieb gibt, der meine Uhr vorstellt, wenn ich nicht hinschaue. Sie zeigt bereits 19:30 und ich habe nicht viel getan außer 90 Kilometer zu fahren und danach zum Strand zu laufen, wo ich jetzt sitze und den Wellen zuhöre. Der Campingplatz befindet sich nicht in Alicante, sondern in Campello, ca. 15 Kilometer entfernt. Ich nehme gerade die Strecke in Augenschein, es scheint, als würde mich der Weg die ganze Zeit über am Meer entlang führen. Ich denke, ich werde morgen eine kleine Radtour in Richtung Alicante starten, denn 15 Kilometer am Meer entlang sind eher eine Vergnügungstour als Fahrradstrecke. Eigentlich freue ich mich bereits darauf und sehe es als Teil des Erlebnisses.
Ansonsten ist hier leider alles ziemlich bebaut, ein neumodischer Betonkasten reiht sich an den nächsten. Ich hatte hier drei Tage eingeplant, doch der Rough Guide gibt mir eigentlich in seiner süffisant-ironischen Art zu verstehen, dass ein Tag definitiv ausreicht. Wir werden sehen. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich etwas gehetzt, ich muss in 3 Wochen in Nizza sein. Das ist eine Menge Zeit und doch ertappe ich mich dabei, überall Zeit einzusparen. Warum eigentlich? Vielleicht bin ich es nicht mehr gewohnt, mich an Zeiten zu halten, so dass mich ein entfernter Termin aus der Bahn wirft oder mich zumindest nervös macht. Ich rede mir gerade ein, dass ich mich entspannt zurücklehnen soll und genau das mache ich jetzt auch. Mehr gibt es hier auch nicht zu tun, also lasse ich es ruhig angehen.