Sarajevo

Die Hitze ist zurück. Endlich stieg heute das Thermometer wieder über 30 Grad, da es allerdings knackig trocken war, hielt ich die Wärme gut aus, ich empfand sie sogar als angenehm. Da Sarajevo ca. 500 Meter über dem Meeresspiegel liegt, wird es wohl ab morgen in Mostar anders, aber das werden wir sehen.
Noch immer kämpfe ich mit einer gewissen Müdigkeit, die sich auch heute Morgen zeigte, als ich einmal wieder viel zu spät die Augen aufschlug. Neun Uhr, hat man so etwas schon gesehen?

Also beeilte ich mich, um möglichst schnell den Tag zu beginnen, was angesichts dieses Zeitpunkts beinahe schon sarkastisch klingen muss. Ich denke nicht, dass ich vor 11 Uhr überhaupt aufbrach, aber ich achtete nicht mehr auf die Uhr. Eigentlich war es auch egal, denn das erste Fieber der Erwartung war bereits vorbei, den größten Teil der Stadt kannte ich schon. So konnte ich es ruhig angehen lassen. Als Erstes lief ich zum islamischen Friedhof, der seit dem 16. Jahrhundert „in Betrieb“ ist. Ich fand ihn nicht umwerfend, viele weiße Grabsteine, die meisten davon sehr neu, gaben dem Ort etwas Steriles, dabei liegt er direkt an der alten Handelsstraße nach Istanbul. Einige alte Mausoleen sah ich, aber am Ende hielt ich mich nicht lange auf. Das Schönste waren sicher die Ausblicke auf die Stadt, auch wenn ich gestehen muss, dass es schönere Stadtpanoramen gibt. Der Charme Sarajevos steckt somit definitiv in den Gassen selbst, die immer mit Leben gefüllt sind.

Danach machte ich nochmals einen Rundweg durch den Basar, auch zu den Metallarbeitern. Dabei fiel mir etwas auf, das ich gestern in der Hitze des Tages übersehen hatte. Überall lagen hier leere Patronenhülsen aus, meist bearbeitet. In jeder Größe konnte man sie kaufen, kleinere waren zu Kugelschreibern umfunktioniert, andere mit Gravierungen bestückt. Die richtig Großen, sicher 30 oder 40 Zentimeter lang, waren Kannen oder Behälter mit Gravuren. Mein Gefühl diesbezüglich ist etwas gespalten, auf der einen Seite finde ich es beachtlich, Materialien, die einfach da sind, zu benutzen, auf der anderen Seite ist eine Patronenhülse mit der Aufschrift „Sarajevo 92-95“ dann doch etwas zu viel für mich. Es ist ja gut und schön, die Ereignisse zu vermarkten, aber angesichts der Massaker, die mit den Inhalten dieser Patronen angerichtet wurden, sinkt mein Verständnis für diese Art Souvenir gehörig nach unten. Und man muss nur immer wieder hinsehen, noch immer sind ganze Häuserwände durchsiebt, Bombeneinschläge zieren noch immer Wohnblöcke und ausgebrannte Mauern gehören noch immer zum Stadtbild. Aber darüber soll sich jeder seine eigene Meinung bilden.

Ich jedenfalls kam endlich zu meinem bosnischen Kaffee. Natürlich ist es griechischer, oder türkischer, alles einerlei. Ich liebe ihn so wie fast jeden Kaffee außer deutschem Filterkaffee, den ich aus irgendeinem Grund nicht vertrage. Mal wieder sehr sinnbildlich.
Ich blieb sehr lange in der Bar sitzen, schrieb viel, aber widmete meine Zeit auch der Köstlichkeit, Menschen zu beobachten. Wie unterschiedlich sie doch alle sind. Immer wieder faszinierend. Da der Roman in die heiße Schlussphase geht, verlangt er natürlich auch eine Menge Aufmerksamkeit. Ich denke, den richtigen Schliff wird er erst mit den Überarbeitungen bekommen, die ich immer erst beginne, wenn ich einmal durch bin. Andere Schriftsteller arbeiten anders, überarbeiten sofort jeden Absatz, den sie geschrieben haben. Das funktioniert bei mir nicht, ich komme dabei durcheinander. Wieder andere erarbeiten ein Konzept, setzen es dann um, aber ich mache das ebenfalls anders. Wie ich vorher schon einmal ausgeführt habe, bin ich der Überzeugung, dass eine Geschichte bereits da ist, bevor sie aufgeschrieben wurde. Ich muss sie nur aus meinem Kopf befreien. Ähnlich wie Michelangelo seine Marmorstatuen, aber ich wiederhole mich.

So verging ein großer Teil des Tages. Eine Sache aber wollte ich noch unternehmen. Ein kleines Museum hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Es bestand nur aus einem einzigen Raum und ich weiß nicht, ob es sich überhaupt lohnen würde, es zu sehen, wenn der Ort, wo es untergebracht ist, für uns Europäer nicht von dieser Bedeutung wäre. Hier, im Jahre 1914, ist am 28.6. das Attentat auf den Thronfolger Ferdinand verübt worden, dass den Ersten Weltkrieg und somit die bis dahin größte Schlacht der Europäer untereinander ausgelöst hat. Nur am Rande, ich bin der Auffassung, dass auch der Zweite Weltkrieg nicht von diesen Ereignissen zu trenne ist, somit war die Phase zwischen 1918 und 1939 nur ein verlängerter und höchst brüchiger Waffenstillstand.

Hier also, direkt vor diesem winzigen Museum, dass nur wenige Gegenstände ausstellt, aber das Attentat zum Thema hat, wurde mit den Schüssen die größte Katastrophe unseres Kontinents ausgelöst. Daran erinnert nur ein winziges Schild draußen, das kaum jemand beachtet, einschließlich ich selbst, denn am Tag zuvor bin ich mindestens einmal hier vorbeigelaufen. Faszinierend ist auch die Tatsache, dass erst ein Bombenwerfer versucht hat, den Thronfolger umzubringen, doch das Attentat wurde vereitelt. Dass sich Ferdinand danach überhaupt noch mal in die Stadt getraut hat, d.h. auf dem Rückweg (vom Rathaus, wo er an einer Versammlung teilnahm) ebenfalls wieder durch die Straßen Sarajevos gekommen ist, mit den für ihn tödlichen Folgen, gehört für mich zu den Rätseln der Geschichte. Heute wäre so etwas undenkbar, aber es scheint, als musste es geschehen, als musste der Mann samt seiner schwangeren Prinzessin sterben, um erst die Katastrophe auszulösen und danach die Saat der Gesundung Europas, dessen Früchte wir, die Söhne und Enkel derjenigen, die nicht das Glück hatten, im Frieden geboren zu werden, zu sähen. Trotzdem machten die Gedanken hier, an diesem Ort, sehr großen Eindruck auf mich.

Ich wanderte danach noch ein wenig durch die Stadt, verabschiedete mich. Es war ein sehr nachdenklicher Aufenthalt hier, den ich sehr genossen habe. Sarajevo blüht im Grunde schon wieder, wird zurzeit nur etwas von den Touristenmassen ignoriert, was ich als sehr angenehm empfinde. Doch der Krieg ist noch überall sichtbar, die Verwundungen äußerlich noch da. Wie es erst in den Menschen hier aussehen muss…

Morgen werde ich nach Mostar fahren, einer Stadt, die ebenfalls durch den Krieg berühmt wurde. Noch heute kann ich mich an den Einsturz der mittelalterlichen Brücke erinnern, die Anfang der 90er tagelang in den Nachrichten gezeigt wurde. Heute ist sie wieder aufgebaut. Es kann sein, dass die Nähe zum Mittelmeer Mostar mehr als Sarajevo zu einem Anziehungspunkt gemacht hat, aber das werde ich schon noch früh genug erfahren. Jedenfalls drohen in Mostar Temperaturen jenseits der 35 Grad, also eine Herausforderung der anderen Art.