Izmir

Es regnete in Strömen. Nicht nur ein leichter Schauer, sondern dicke Tropfen. Es sind Tage, an denen ein Reisen, wie es mir vorschwebt, kaum möglich ist. Allein schon das Aus- und wieder Einsteigen in den Camper ist immer wieder eine Herausforderung, trocken kommt man selten an. Wie auch die Tage zuvor setzte eine gewisse Trödelei ein. Zwar stand ich zeitig auf, doch von meiner gestrigen Unlust, etwas zu unternehmen, war eine Menge geblieben. Mein Roman fesselte mich etwas weniger als sonst, vielleicht weil ich den langatmigsten Teil korrigiere, der notwendig, aber etwas schwieriger zu lesen ist.

Gegen elf ließ der Regen etwas nach, ich bereitete mich auf meine Abfahrt vor. Nachdem ich im Rough Guide recherchiert hatte, womit sich der Tag am Besten füllen lasse, entschied ich mich für das Ethnologische Museum. Auf die diversen Festungen auf Hügeln hatte ich ebenso wenig Lust. Ebenso wenig wie auf Archäologie, also schien es mir eine willkommene Abwechslung. Schon während der Fahrt begann wieder der Regen, heftig und unablässig. Der sonst so blaue Himmel war in ein berlingrau eingefärbt, eine Farbe, die stets wenig Hoffnung auf Änderung macht. Dabei bleib es ausgesprochen warm, sicher 25 Grad. Die Nässe jedoch erfrischte nicht, sondern setzte sich in der Luft fest. Eine schweißtreibende Angelegenheit. Vielleicht kommt daher meine ungewohnte Aggressivität.

Das Museum fand ich nach einigem Suchen während einer verhältnismäßig trockenen Phase. Ich sah eine Menge Traditionelles, erfuhr von Kamelringen und studierte antike Teppiche, stellte dabei fest, dass ich die türkische Kultur nicht einmal ansatzweise angekratzt habe. Doch das konnte ich auch nicht erwarten, selbst wenn ich noch einige Wochen bleiben würde. Was ich kenne, ist der europäisierte Teil, den man auch nicht unterschätzen darf, denn er ist sichtbar Teil dieser Identität, vor allem hier an der Küste und in den großen Zentren. Wie es in Anatolien aussieht, weiß ich natürlich nicht, aber ich vermute, dass es wesentlich „konservativer“ zugeht. Das Museum, so einfach es auch gestrickt sein mochte, half mir, darüber nachzudenken. Im Obergeschoss sind Wohnräume ausgestellt, etwas veraltete Plastikpuppen tragen traditionelle Gewänder. In einem Raum, der wie ein normales Einbett-Zimmer aussah, stand ein Plastik-Junge mit etwas verzogenem Gesicht. Die Tafel beschrieb es als „Room of Circumcision“ oder so ähnlich. Beschneidungszimmer. Da würde ich auch grantig aus der Wäsche gucken. Ebenfalls interessant: die Herstellung von Glasperlen gegen den „Bösen Blick“. Das muss ich mir anschaffen, kann nicht schaden.
Nach einer dreiviertel Stunde war ich wieder draußen. Wollte ich nur ein wenig am Wasser entlang spazieren, wurde dieser Wunsch durch den wieder einsetzenden Regen zunichtegemacht. Daher setzte ich mich im Pier in ein Café mit Blick aufs Wasser, das ist mindestens genauso gut. Meine letzten Stunden in Izmir sind angebrochen, morgen werde ich dem Camper Sporen geben, denn das Wetter hier soll in den nächsten fünf Tagen so verregnet bleiben. Vielleicht schaue ich mir doch Ephesus ans. Vielleicht fahre ich gleich weiter nach Bodrum. Je nach Wetter- und Stimmungslage, die beide im Moment sehr schwanken.

Aus gegebenem Anlass musste ich heute Abend über ein Thema nachdenken: Macht am Arbeitsplatz. Und die Tatsache, dass andere von „unten“ aufstreben. Besonders wenn diese eigentlich nur ihren Job machen und sich kreativer Problemlösungen widmen, die noch vorher noch nicht da gewesen sind. Doch das wird nicht unterstützt, sondern bestraft, weil sich irgendwer wieder einmal übergangen fühlt. Wichtigkeit durch Macht, heißt das mal wieder. Die Folge davon ist Rückschritt und Erfolglosigkeit, denn wenn die involvierten Mitarbeiter schlechte Erfahrungen diesbezüglich machen, werden sie das nächste Mal lieber nichts tun als sich des Problems anzunehmen. Mir scheint das so gewollt, beinahe konstruiert. Wichtigkeit des Individuums ist somit der größte Fortschrittskiller schlechthin. Eigentlich müsste man Entscheidungsträgern jeden Tag vor Arbeitsbeginn eintrichtern, dass niemals sie wichtig sind, sondern immer nur die Sache. Ich glaube, dass sehr, sehr viel Leid auf der Welt durch diese leicht zu verstehende Wahrheit auszumerzen wäre. Wenn nicht sogar gänzlich. Wenn man nun auch noch die Gier und die dadurch entstehenden unmoralischen Handlungen in den Griff bekäme, wäre es vorbei. Ich weiß, das ist unmöglich. Dennoch, die nächste Evolutionsstufe, die der Mensch erreicht, muss solcherlei Aspekte erreichen, wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen. Dazu gehört aber die Ächtung der jetzt Verantwortlichen. Ich werde beispielsweise nie verstehen, warum Banker nach der Krise noch immer Banker sind. Es hätte Tribunale geben müssen, Verantwortlichkeiten müssten geklärt werden, Verbrecher hinter Gitter gebracht. Stattdessen geschieht nichts. Aber das zieht sich durch die Geschichte. Je einflussreicher, desto weniger verantwortlich.
Und weshalb? Alles nur wegen Gier. Nach Macht. Und damit nach Wichtigkeit.
Dabei wäre es einfach. Die Übernahme von Verantwortung gehört für mich zu moralischem Handeln. Wenn ich nicht den Hintern in der Hose hab, für meine Aktionen geradezustehen, gehöre ich nicht in eine Position, die Verantwortung beinhaltet. Hieße auch, dass Banker ihre Schulden beim Staat oder sonstigen Schuldnern bezahlen müssten. Wenn nötig, bis ans Lebensende.
Aber das glaube selbst ich nicht. Nicht einmal die Post kann die Verantwortung für ein verlorenes Paket übernehmen. Wie sollten sich dann Menschen eingestehen, dass sie für den finanziellen Ruin von Tausenden verantwortlich sind?
Trotzdem: Das ist der Schlüssel. Je mehr Menschen den Mut aufbringen, für ihre Taten einzustehen, desto besser wird diese Welt.