Höhle von Lascaux

Schon gestern Abend wunderte ich mich, weil auf dem Platz vor der Mairie Tische und Bänke aufgestellt wurden. Es dauerte nicht lange, bis ich die Erklärung präsentiert bekam: Dorffest. Bis nachts um eins Fête des Voisins. Popmusik in Festivallautstärke. Man muss sich das vorstellen: Ich komme aus dem hektischen Berlin in ein winziges Nest im Périgord und platze direkt in den Dorf-Rave hinein. Und bin nicht mal eingeladen, weil kein „Voisin“.

Ich hielt es also einfach aus. Zum Glück habe ich Ohrenstöpsel dabei, ein nützliches Utensil auf jeder Reise. Irgendwann jedenfalls war die Party zu ende, von diesem Moment an hörte ich nur noch die Vézère, die in einigen Metern Entfernung ruhig dahingleitet.

Am nächsten Morgen verschlief ich ein wenig, was aber nichts ausmachte. Ich wollte heute nach Lascaux. Vor zwei Jahren hatte ich mit dem Gedanken gespielt hinzufahren. Aber mangels Busse und mangels Motivation – mir ist Lascaux als Touristennepp verkauft worden – habe ich es letztlich nicht einmal versucht. Heute sagte ich mir aber, das ich bestimmt das letzte Mal in der Gegend sein würde. Was ich jetzt nicht sehe, sehe ich niemals mehr. So etwas sollte man sich immer vor Augen führen, wenn man irgendwo hinfährt.

Ich radelte los, an den wenigen Steigungen stieg ich allerdings vom Rad, weil ich mich immer noch kaum rühren konnte. Dann aber erreichte ich auf eine relativ ebene Fläche. Ich kam rascher voran.

Ich hatte ein etwas mulmiges Gefühl, mehr als 2000 Besucher sollen pro Tag nicht durch die Exposition geschoben werden können. Ob ich ein Ticket bekommen würde?

Ich bog auf den Besucherparkplatz ein, entdeckte sogar Fahrradständer, die es hier sonst kaum zu geben scheint, und überblickte die Lage. Der Parkplatz war nicht prallvoll, aber gut gefüllt. Was soll’s? Ich beschloss, mir das einfach anzusehen. Zur Not konnte ich morgen wiederkommen.

Am Eingang des dreieckigen Betonklotzes, das gewaltige Proportionen annimmt, wurde ich von drei finsteren Security Guards gestoppt. Nun, ich trug schwarze Wanderklamotten mit Stiefeln und meinen Hipster-Dutt. Keine Ahnung, aber die Kerle sahen mich mehr als misstrauisch an. Sie wollten meinen Rucksack durchsuchen. Beinahe fiel mein Baguette auf den Boden, es wäre schade um den Lunch gewesen. Danach sahen die Guards nicht mehr so misstrauisch drein, sondern eher amüsiert. Ich durfte also weiter zur Ticket-Office. 17 Euro für ein Ticket. Das wusste ich. Der Witz war aber, dass ich mich sofort einer englischen Gruppe anschließen konnte. Warum hatte ich mir Gedanken gemacht? Alles hatte funktioniert.

Die Höhle von Lascaux mit ihren Jahrtausende alten Höhlenmalereien selbst ist nicht zugänglich, die wurde schon in den 60er Jahren nach nur wenigen Jahren wieder geschlossen, weil das veränderte Raumklima durch die Touristenmassen verändert worden war. Was uns aber erwartete, war ein exakter Nachbau eines Teils der Höhle, Lascaux 4 genannt, um den Touristen ein möglichst authentisches Erlebnis zu gestatten. Ich muss sagen, dass ich es nicht eine Sekunde bereute. Alles wirkte echt. Jedes Detail schien da zu sein, jeder winzigste Farbrest, jeder flache Kratzer. Die herrlichsten Tierporträts erschienen, meist Büffel und Pferde. Das alles zu Höhlenbedingungen, also fast dunkel und feucht-kalt, um uns Zuschauern die Arbeitsbedingungen der Künstler vorzuführen. Nur ein Wort: Wahnsinn. What a knock-off.

Neben den Tieren waren oft seltsame Zeichen zu sehen, Punkte oder Striche, manchmal Quadrate. Kein Mensch weiß, was diese Symbole bedeuten. Zwischen ihnen und uns liegen 20.000 Jahre. Da ist einiges verlorengegangen. Auch die Frage, warum nur ein einziges menschliches Wesen abgebildet ist, und selbst das hat nur einen Vogelkopf. Bemerkenswert auch: Die Höhle wurde Jahrhunderte oder Jahrtausende bearbeitet, manches übermalt oder überritzt. So wie unser heutiges Graffiti.

Vor uns befand sich eine Gruppe, hinter uns ebenfalls. Das System hier muss perfekt aufeinander abgestimmt sein, kaum Raum für Zeitverlust. Manchmal wäre ich gerne geblieben und hätte die Kunstwerke länger studiert. Aber die Führerin beruhigte uns Ungeduldige: Wir würden alles später im Besucherzentrum noch eingehend untersuchen können.

Was ich vergessen habe zu erwähnen, ist die Tatsache, dass wir alle ein Tablet in die Hand gedrückt bekommen haben. Dazu gab es Kopfhörer, so dass wir nicht immer in unmittelbarer Nähe der Führerin stehen mussten. So weit, so gut. Wirklich interessant wurde das Tablet erst nach der Höhle im Besucherzentrum. Hier waren alle (!) Gemälde nochmals dargestellt. Mit Hilfe des Tablets konnte ich mir weitere Erklärungen anhören und kleine Filme ansehen. Die Techniken der Künstler wurden erklärt und die Lösungen für solch profane Probleme wie dem Licht. Nicht ganz unwichtig in stromlosen Zeiten. Hirschfett in einem ausgehöhlten Stein und einem Docht sorgten für die Beleuchtung. Ich stellte mir das trotzdem sehr schwer vor. Eigentlich unglaublich, dass Menschen damals in einen Berg hineinkrochen, um die Wände zu bemalen. Gelebt haben sie dort nicht. Ich habe nur eine Erklärung für so viel Verrücktheit: Religion. Die lässt Menschen oft auf eigenartige Ideen kommen. Andererseits hätten wir dann keine großartigen Kunstwerke wie Lascaux. Oder sie sixtinische Kapelle. Alles nicht so einfach.

Im Besucherzentrum studierte ich also de Motive genauestens. Selbst an Bewegung haben die Künstler damals gedacht, z.B. in dem sie einen Büffel mit mehreren Köpfen versahen. So etwas habe ich schon mal gesehen. Picasso. Von dem weiß ich, dass er Höhlenkunst studiert und sie sehr verehrt hat. Im Grunde hat er viele Ideen durch den Kubismus weiterentwickelt.

Nach dem Besucherzentrum bekamen wir noch einen Film zu sehen, in 3D und inhaltlich etwas futuristisch. Fakt ist, dass ich fast eingeschlafen wäre. Doof. Die Nacht war doch etwas anstrengend gewesen. Den Abschuss bildete eine Ausstellung über Künstler, die sich haben inspirieren lassen. Picasso war dabei, aber auch Miro und Kleist. Wer hätte da gedacht?

Mehr als drei Stunden war ich in der Ausstellung und kann sie nur jedem empfehlen. Man ist so nah an den Werken dran, wie es nur geht. Dank modernster Technik ist es ein echtes Erlebnis, selbst wenn ich die Originale nie zu Gesicht bekommen werde. Aber das macht nichts, denn alles ist so täuschend echt dargestellt, dass es das nicht braucht.

Ziemlich erschöpft verließ ich die Ausstellung schließlich. Danach lief ich noch durch Montignac, eine hübsche Kleinstadt, die sich auch ohne die Höhle lohnen würde. Der Fluss bestimmt wie immer das Stadtbild, ebenso wie die Burganlage und die Kirche. Nicht ungewöhnlich, aber wirklich sehr hübsch. Vor der Mairie sah ich eine Hochzeitsgruppe, sicher an die 40 Menschen. Das passte gut hierher. Ich trank noch einen Kaffee, bevor ich die Rückfahrt antrat. Als ich in St. Léon eintraf, ruhte ich mich erst einmal kurz aus. Dann hörte ich es hupen. Wieder und wieder. Das konnte nicht wahr sein. Die Hochzeitsgruppe traf ein. Hinter der Kirche gab es einen Jazz-Empfang. Ich sah Sterne. Muss das immer alles hier sein? Bei aller Liebe, muss immer da gefeiert werden, wo ich bin? Ich will nicht feiern. Und auch nicht anderen zuschauen. Grumpy old fart.

Jedenfalls stellte ich abends mit Erleichterung fest, dass alles nur ein kleiner Empfang war. Die Gruppe fuhr danach zur echten Feier und sicher auch Bankett weiter. Es sei ihnen gegönnt. Jetzt, da sie nicht mehr da sind.

Es war ein guter Tag, den ich noch lange in Erinnerung behalten werde, einfach weil ich einen Ort gesehen habe, an dem der Mensch wirklich begonnen hat, Mensch zu sein. Eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist. Denn oft genug noch vergessen wir, dass wir keine Tiere sind. Vielleicht sind dazu noch ein oder zwei Qualitätssprünge in unserer Entwicklung notwendig. Aber das werde ich nicht erleben. Wie auch nicht meine Nichten oder deren Kinder. Schade, dass ich nicht in die Zukunft sehen kann. Nach einem Tag wie diesem, an dem ich so weit in die Vergangenheit zurückgehen konnte, würde ich das gleiche auch gerne in der anderen Richtung unternehmen. Alles sehen, vom Anfang bis zu Ende. Vielleicht sollte ich mir doch wieder einen Glauben zulegen, dann hätte ich die Illusion, so etwas zu können. Alpha und Omega.

Jetzt ist aber Schluss mit dem Geschwafel.

 

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