Montpellier und Ste Croix de Verdon
Wieder einmal muss ich aus meiner Erinnerung schreiben, denn am gestrigen Abend fehlte mir die Energie, noch einmal das Netbook anzuwerfen. Es war nach langer Zeit ein Tag der schlechten Entscheidungen, irgendwann werde ich lernen, dass man entweder eine lange Strecke fährt oder eine Stadt besichtigt. Beides auf einmal führt unweigerlich zu kreativer Frustration.
Gestern Morgen weckte mich das Trommeln des Regens auf dem Dach, trotzdem wollte ich mir Montpellier ansehen, dass ich vor 12 Jahren bereits besichtigte, jedoch nur noch bruchstückhafte Erinnerungen davon habe. An eines erinnerte ich mich dennoch, es war damals schon schwierig, einen Parkplatz zu finden. Das stellte sich auch diesmal als zumindest kleines Problem heraus, ich musste einige Male umherkurven, bis ich ca. zwei Kilometer außerhalb des Zentrums eine Gelegenheit fand, die Transe sicher abzustellen. An normalen Tagen wäre es kein Problem gewesen, doch heute spielte das Wetter nicht mit und ich kränkelte ein wenig. Aller Widerstände zum Trotz lief ich los, fand den richtigen Weg nicht und verdoppelte so die Strecke sicherlich. Die äußeren Umstände waren einfach scheußlich, der Wind blies aus aller Kraft, zwar regnete es nur sporadisch, aber mir reichte es. Als ich endlich das Zentrum erreichte, begann es stärker zu schütten, mein Weg führte mich also erst einmal in ein Café. Dort blieb ich anderthalb Stunden. Die Wahl meines Schuhwerks stellte sich einmal mehr als miserabel heraus, Sandalen sind bei Nässe und Kälte bei leichter Erkrankung definitiv unpassend. Trotzdem lief ich noch durch die Stadt, die ich als wundervoll empfand. Die Altstadt ist auch nicht sehr groß, die Häuser herrschaftlich, die Boulevards breit. Aber es existieren auch engere Gassen, die dann und wann in herrliche Plätze münden, auf denen es sich sicher bei einem Kaffee wunderbar sitzen und Leute beobachten lässt. Das war heute natürlich abwegig. An ein Bild aus vergangenen Tagen erinnerte ich mich besonders, es war ein Park, in dem sich eine Art Bogen befand. Den fand ich wieder. Damals war diese Erinnerung zu einre Art Sinnbild für Montpellier in meinem Gedächtnis aufgestiegen, heute kam es mir eher langweilig vor. Wenn ich eines über die Stadt in Erinnerung behalte, dann die Atmosphäre insgesamt, heiter und grande, mit vielen Winkeln, die entdeckt werden wollen.
Irgendwann musste ich meinem Zustand Tribut zollen, es ging bereits mächtig auf drei Uhr zu und ich hatte mir noch eine Strecke von ca. 250 Kilometern vorgenommen. Es dauerte wieder eine Weile, bis ich das Auto fand. Einmal falsch abgebogen und man ist ganz woanders, als man will. Logisch eigentlich. Leider gibt es noch keine Navigationsgeräte für Fußgänger, und wenn, würde ich es nicht kaufen. Es gehört dazu, sich ab und an zu verlieren, die Eindrücke, die man dann unverhofft gewinnen kann, sind oft beeindruckend. Heute sah ich das aber anders und war froh, endlich beim Camper und einem heißen Tee angelangt zu sein. Bald darauf fuhr ich los.
Oft sagte mir meine innere Stimme, kein Narr zu sein und einfach anzuhalten und auszuruhen, um den Weg morgen weiter voranzutreiben. Ich ignorierte sie und wie immer rächt sich so etwas. Ich fuhr bis 20 Uhr, bis ich an meinem Zielort ankam, Ste Croix de Verdon. Ich habe gestern halb Südfrankreich durchschnitten, bin rasend schnell vorangekommen, habe Orte wie Nimes, die Carmarque, Arles, Avignon und Marseille – um nur einige zu nennen – hinter mir gelassen. In mir kam eine Art Panik auf, Verlustangst sozusagen, doch werde ich mit Nina zusammen zumindest einige Städte gemeinsam sehen. Das beruhigte mich wieder. Alles in allem war es einfach zu viel, zumal noch die Frustration hinzu kam, kein einziges Wort geschrieben zu haben. Bereits während der Fahrt versuchte ich, den Fehler zu finden, kannte ihn natürlich schon. Die innere Stimme hatte es mir gesagt, aber ich hatte mich durchgesetzt, zu meinem eigenen Schaden, so wie immer, wenn ich mich über sie hinweg setze. Oft schon habe ich mir vorgenommen, das niemals wieder zu tun, aber manchmal falle ich darauf herein. Ich werde es schon eines Tages lernen.
Irgendwo bei Arles kam ich an einer Gruppe Zigeuner vorbei, eine ganze Sippe, die mit ihren Wohnwagen dicht an dicht eine wichtige Ausfahrt blockierten und einige Franzosen zu waghalsigen Fahrmanövern zwang. Die Zigeuner schauten im Allgemeinen finster drein, sicher eine Art Abwehr gegen die sonst üblichen Vorurteile, mögen diese jetzt stimmen oder nicht. Als sie mich jedoch sahen, hellte sich ihre Stimmung sichtlich auf, viele grüßten. Ich dachte erst, das täten sie mit allen Wohnmobilisten, doch Fehlanzeige. Die Holländer hinter mir ignorierten sie. Ich fragte mich, was sie in mir sahen, vielleicht erkannten sie einen Reisenden, obwohl ich mich mit ihnen nicht vergleichen kann. Denn noch lebe ich dieses Leben noch nicht in letzter Konsequenz, setze mich noch nicht über die gesellschaftlichen Normen hinweg, die eine Existenz wie diese eigentlich verbieten. Doch vielleicht sahen sie es schon, den Anfang, der oft wichtiger ist als die darauf folgenden, wesentlich mutigeren Aktionen. Wir werden sehen, die freundlichen Gesichter jedenfalls habe ich nicht vergessen.
Ste Croix de Verdon stellte sich jedenfalls als fantastische Wahl heraus. Ich sitze jetzt, in diesem Moment, auf einer Bank, der See liegt ca. 100 Meter unter mir. Es ist herrlich, schöner als die norditalienischen Seen, weil ursprünglicher und nicht überlaufen.
Heute Abend jedenfalls startet die Fußball-WM, die sicher die halbe Welt in eine Art Trance versetzen wird. Vielleicht sehe ich mir das eine oder andere Spiel an, es ist ja manchmal ganz nett, auch wenn ich die hemmungslose Kommerzialisierung des Sportes nicht unterstützen möchte, was ich mit meiner Aufmerksamkeit eigentlich tue. Ich werde das an anderer Stelle näher erklären, dafür wird es in den nächsten Wochen bei der ganzen Fußball-Verrücktheit noch reichlich Gelegenheit geben.
Heute muss ich dafür sorgen, dass der Camper wieder auf Vordermann kommt. Einmal Putzen bitte, zum Glück ist er nicht sehr groß.
Das Reisen wird ab morgen anders, um 15 Uhr werde ich in Nizza am Flughafen sein, um Nina zu begrüßen.
Es ist in jedem Fall Zeit dafür.