Selimpasa

Und damit wäre das halbe Jahr voll. Es ist nicht zu fassen, vor sechs Monaten bin ich aus dem noch immer eiskalten Berlin abgefahren, in den Frühling hinein, ins Ungewisse. Vielleicht ist es an der Zeit, einmal inne zu halten. Was hätte alles geschehen können. Ich wusste damals nicht, ob ich heute überhaupt noch ein Zuhause haben würde, denn was würde mit einer Beziehung geschehen, die ein halbes Jahr fast unkonsumiert bleibt? Ich rede nicht nur von Sex, sondern von allem anderen. Heute kann ich sagen, dass die Beziehung gehalten hat, wahrscheinlich fester ist denn je. Nina ist vor ein paar Tagen umgezogen, ich letztendlich auch, selbst wenn ich nicht dabei war. Ich wohne jetzt in einer Vierzimmerwohnung, die meine Eltern vor 27 Jahren gekauft haben. Nina hat es allein geschafft. In einem Monat kommt sie mich in Antalya besuchen.

Heute also sollte ich Griechenland verlassen. Vier Wochen war ich in diesem wundervollen Land unterwegs und es kommt mir vor wie gestern, dass ich von Albanien hinunterfuhr. Damals brauchte ich für 300 Kilometer eine Ewigkeit, den ganzen Tag musste ich fahren. Heute würde ich eine ähnlich weite Strecke vor mir haben, doch mit wesentlich angenehmeren Verhältnissen. Aber wie immer vor einem Grenzübertritt war ich aufgeregt, schlief schlecht. Mein Misstrauen gegen Beamte und deren Macht ist riesig, und auch wenn ich bislang keinen Grund habe zu klagen, habe ich immer das Gefühl, dass es mich an einem ähnlichen Tag wie diesem erwischt. Was auch immer das heißt.

Ich begann den Tag aber erst einmal mit meinem Roman. Es sind immer wieder Nuancen, die mich beschäftigen. Mal sitzt jemand, mal steht er, wann aber ist er aufgestanden und warum überhaupt? Es sind diese Kleinigkeiten, die diese Geschichte abrunden, Szenen, die durch winzige Beobachtungen zum Leben erweckt werden. Wenn meine Leser aufmerksam sind, können sie alles erfahren, denn ich habe genügend Andeutungen eingebaut, auch wenn der Roman in der dritten Person geschrieben ist. Auch wenn es mich ein Höchstmaß an Energie kostet, lohnt sich die Korrektur. Und beginnt langsam, wirklich Spaß zu machen. Wenn ich das noch zwei, drei Jahre durchhalte, kann ich vielleicht auch einmal die Bücher anderer lektorieren. Mal sehen, wo mich diese Reise hinführt.

Meine heutige Fahrt sollte mich in die Türkei bringen. Ob man es glaubt oder nicht, ich war noch nie hier. Wenn man davon absieht, dass ich in Berlin geboren bin, das im Volksmund Klein-Istanbul heißt. Heute wollte ich also das echte besuchen, zumindest heranfahren. Durch die Arbeit fuhr ich relativ spät los, erst gegen halb zwölf und ich befürchtete schon, dass das zu späte gewesen wäre. Durch einen Einkauf und Tanken verrann die Zeit schneller als mir lieb war. Erst gegen eins war ich an der Grenze. Die Griechen interessierten sich gar nicht mehr für mich, winkten einfach, immer weiter also. Dann kamen die Soldaten. Auf einer Brücke standen sicher ein Dutzend Knaben, denn älter waren sie nicht, mit Maschinengewehren im Anschlag. Ich grüßte freundlich, bekam auch immer einen Gruß zurück, aber allein die Waffen weckten ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Warum dieser Aufwand? Beim türkischen Posten fing alles recht harmlos an, der erste Zöllner scherzte noch und probierte seine Deutschkenntnisse aus. Dann wurde es etwas haariger, um alle Vorurteile über südländische Beamte zu bestätigen. Ich musste zu einer Box, in dem ein Grenzbeamter saß. Der schaute fern. Dass vor seinem Kabuff mehrere Fernfahrer und Touristen standen, interessierte ihn erst einmal weniger. Dann stand er auf und lief weg, wahrscheinlich um einen Kaffee zu trinken. Ich unterhielt mich derweil mit einem Deutsch-Türken aus Oberhausen, der das nächste halbe Jahr in Istanbul verbringen wollte. Dadurch wurde die Zeit kürzer. Irgendwann tauchte der Beamte wieder auf, es ging jetzt recht schnell. Ich dachte, ich wäre fertig, aber weit gefehlt. Ich sollte zu Schalter drei. Wieder lief der Fernseher, wieder stand ich an. In der Werbepause stempelten sie dann wie verrückt, ohne auch nur darauf zu achten, was sie taten. In jedem Fall durfte ich weiter, hegte schon die Hoffnung, endlich durch zu sein. Wieder ein Irrtum, denn eine Schranke versperrte mir hundert Meter weiter den Weg. Ich glaube, das waren wieder Zöllner. Zwei Beamte diskutierten, ob sie den Camper durchsuchen wollten. Sie waren sich nicht einig, glaube ich. Am Ende warf einer der beiden zumindest einen Blick hinein, wie immer in solchen Fällen verlor er rasch die Lust, weil die Kiste ja eigentlich leer ist. Sie glauben mir immer nie, dass es sich nicht um ein Lieferfahrzeug handelt. Die Schranke öffnete sich, ein Schild hieß mich in der Türkei willkommen, ich hatte es geschafft.

Wenn mich das Misstrauen vor dem Grenzübertritt immer verunsichert, fühle ich mich hinterher immer großartig. Selbst die Dieselpreise von 1,50 Euro hauten mich nicht vom Hocker, ich hatte mich bereits vorher erkundigt und dem Schock sozusagen vorgebeugt. Damit muss ich nun einmal leben. Die Fahrt selbst, mautfrei und auf annehmbaren Straßen, verlief ereignislos. Der einzige Campingplatz, den ich gefunden habe, liegt leider 40 Kilometer von Istanbul entfernt, morgen werde ich ausprobieren, ob es möglich ist, die Stadt zu besichtigen. Ich habe mittlerweile von anderen Plätzen gelesen, die am Flughafen liegen sollen. Vielleicht werde ich mich einfach erkundigen und in einigen Tagen wechseln. Bus fahren ist ja eigentlich nicht das Schlechteste, dort kann ich sicher gut arbeiten. Aber auf mehrere Stunden Fahrt habe ich eigentlich keine Lust, schon gar nicht auf Dauer. Ich habe eigentlich viel Zeit, Eile ist nicht geboten. Und Istanbul ist sicher ein paar Tage wert.
Morgen werde ich schlauer sein.