Neapel
In zwei Wochen ist Weihnachten. Erst heute wurde mir das bewusst, ebenso die Tatsache, dass ich das Familienfest allein verbringen werde. Es steht schon seit Monaten so fest, ich habe es selbst so entschieden, oder besser nichts getan, um diese Situation zu ändern. Trotzdem ist es ein eigenartiges Gefühl, das mich heute etwas betrübt.
In der Nacht hatten wir einmal wieder einen Wetterumschwung. Diesmal in die andere Richtung, es wurde empfindlich kalt. Ich habe es gar nicht so sehr gemerkt, beziehungsweise unterschätzt. Denn ich dachte, nach einem morgendlichen Kälteschock würden sich die Temperaturen erholen. Taten sie aber nicht, also fror ich den ganzen Tag, weil ich Handschuhe, Schal und dicke Strickjacke nicht dabei hatte. Aber ich hielt es aus, so wie alles.
Ich kann nicht sagen, dass ich heute ein echter Frühaufsteher war. Es war ein seltener Ausrutscher, meist bin ich gegen sieben wach, heute erst gegen neun. Es ärgerte mich etwas, denn zwei wertvolle Tagesstunden waren vergangen, ehe ich den Tag begann. Und ich wollte diesen doch so gut wie möglich ausnutzen. Ich beeilte mich, so dass ich kurz nach zehn aufbrach. Die Circumvesuviana, die Metro, die um den Vesuv herum führt, kam kurz darauf. Ich kannte das Spiel noch vom letzten Mal, als ich in Sorrento genächtigt hatte. Fast zehn Jahre ist das her, doch ich weiß es immer noch. Zumindest gab mir der Rough Guide recht, kein Wunder, es ist derselbe wie vor zehn Jahren. Doch hier ändert sich nicht viel.
Ich muss noch kurz erklären, warum ich nur einen Tag hierbleibe, mir nur Neapel ansehe. Der Grund ist darin zu finden, dass ich den Rest schon kenne. Herculaneum, Pompeji, Sorrento, Positano, Amalfi und noch einiges mehr habe ich bereits besucht. Sträflicherweise aber habe ich die Hauptstadt des Südens bislang nicht mit meiner Anwesenheit beglückt. Das wollte ich heute nachholen. Die Circumvesuviana, die um den ganzen Golf von Neapel fährt, brachte mich sicher und schnell in die Stadt. Dabei beobachtete ich die Leute, besonders einige junge Erwachsene. Ich kann nicht anders als hier die Protagonisten in Savignanos Buch zu sehen. Machogehabe, laufend nach Respekt suchend, Männlichkeit zur Show stellend – die Gründe, warum Leute ohne Perspektive als kleinste Leuchten bei der Mafia einsteigen, nur um letztlich verheizt zu werden und früher oder später im Gefängnis landen – wenn sie Glück haben. Wenn nicht, dann finden sie ihren Weg sehr rasch unter die Erde. Savignanos Gomorrha ist voll von diesen Geschichten. Aber das nur nebenbei.
Ich kam in Neapel auf dem Piazza Garibaldi an, der im Reiseführer als völlig chaotisch beschrieben wurde. Aber weder fand ich die „Touts“ und afrikanischen Geschäftemacher, noch war der Verkehr so tödlich wie beschrieben. Es lag sicher daran, dass an allen Enden und auch manchmal Ecken gebaut wird. Und der Platz ist von Polizisten übersät, also hat sich doch einiges geändert, seit der Rough Guide diese Zeilen veröffentlicht hat. Trotzdem war es laut, und nachdem ich den Bahnhofsvorplatz überquert hatte, begann auch der gefürchtete Verkehr. Allerdings bin ich inzwischen recht abgebrüht, mich schreckt das alles nicht so sehr. Fahren will ich hier dennoch nicht, warum auch, das öffentliche Nahverkehrssystem ist vorzüglich, zumindest soweit ich es kenne. Ich hatte vor meiner Ankunft die Straßenkarte eingehend studiert, um nicht zu offensichtlich als Tourist zu erkennen zu sein. Aber letztlich stellten sich all die Räubergeschichten als harmlos heraus. Sicher ist Neapel nicht Rom. Was mir sofort auffiel, waren die Müllberge. Die Stadt hat ein echtes Problem, denn es nimmt unvorstellbare Ausmaße an. Die Säcke stapeln sich, in den Straßen weht der Wind Papier und Plastik umher. Es erinnerte mich an Manchester. Aber hier ist es schlimmer. Dass ich so etwas noch einmal schreiben darf.
Zuerst lief ich den Corso Umberto I. entlang. Hier traf ich auf die Schwarzafrikaner, die allerlei Zeug verkaufen. Meist gefälschte Markenprodukte. Manches verfolgt mich wohl durch halb Europa. In jedem Fall wollte ich in die Altstadt Spaccanopoli, der Rough Guide hat es ziemlich genau beschrieben. Bald schon bog ich ab und fand mich in einer Kirche wieder, die Krippenspiele ausstellte. Das ist eines der Markenzeichen Neapels. Es waren erstaunlich detaillierte Darstellungen, manchmal etwas frech. Kaspar betrunken vor der Krippe, seinen Rausch ausschlafend. Ich könnte es verstehen, schließlich war es eine lange Reise.
Dann bog ich in die Via S.Bagio dei Librai. Es ist eine düstere Gasse, sehr lebendig, mit alten, teilweise renovierungsbedürftigen Gebäuden. Die Häuser kommen schluchtartig auf einen zu, es herrscht Gedränge. Die Atmosphäre habe ich so noch nicht erlebt. Ich würde es nicht als touristisch bezeichnen, auch wenn das ein großes Element ist, aber kein herausragendes.
Ich schlenderte einfach durch diese Gasse, sog die Atmosphäre auf. Die Krippenspiele werden überall angeboten. In einem Laden fand ich ein ziemlich hässliches Porträt von Berlusconi. Wahrscheinlich kann man es sehr gut zum Dartspielen benutzen.
Die sicher ein Dutzend Kirchen auf dem Weg ließ ich weitgehend aus. Bis auf eine Ausnahme, S. Chiara schaute ich mir an. Es ist ein herrlich schlichter Bau, trotzdem erhaben, ein Ort der Stille. Hier ruhte ich mich ein wenig aus. Kirchen sind dafür bestens geeignet. Und niemand zwingt einen, etwas völlig Überteuertes zu konsumieren, wie in den örtlichen Cafés. Zumindest nicht so offensichtlich. Als ich wieder heraustrat, war ich etwas aufgewärmter. In die dunklen Gassen hier stößt die Sonne kaum hervor, deshalb war es natürlich um so kälter. Ich dachte sogar ernsthaft darüber nach, mir eine Winterjacke zu kaufen, widerstand aber der Versuchung, was in der Via Toledo nicht einfach war, in denen ich eine ganze Reihe von Geschäften fand. Um den Besuch in der Altstadt abzurunden, lief ich zum etwas heruntergekommenen Piazza Dante, von dort in die Via dei Tribunali. Das ist die zweite wichtige Straße in diesem Viertel. Auch hier fand ich viel Atmosphäre. Das Obskure ist überall und ich kann mir vorstellen, dass es früher ziemlich unheimlich gewesen sein muss, hier nachts langzulaufen. Vielleicht ist es das heute auch noch, es war nicht nachts, sondern helllichter Tag. Auch wenn es nicht danach aussah. Ich hielt mich eine Weile hier auf, beobachtete Neapolitaner, die sich um eine Pizzeria drängten. Das ist sicher der Geheimtipp, hier kommen sie alle hin, um zu essen. Da es sich um eine Take-Away-Angelegenheit handelte, konnte ich die Leute alle beobachten, wie sie ihre köstlich-riechenden Pizzen mampften. Ich ärgerte mich, weil ich kurz zuvor meine langweiligen, selbst gemachten Sandwiches gegessen hatte. Das darf eigentlich nicht passieren.
Der Höhepunkt meines Besuchs stand mir noch bevor. Ich wendete irgendwann und lief wieder in Richtung Via Toledo. Dahinter befinden sich die alten, im Schachbrettmuster angelegten, Armenquartiere, die einst im 16. Jahrhundert für Angehörige der spanischen Armee gebaut worden sind. Deshalb der Name Quartiere Spagnoli. Ich fand das Viertel recht leicht. Es ist noch enger angelegt, noch baufälliger. Doch so wie es der Rough Guide beschreibt – „disgrace“/ Schande -möchte ich nicht gehen. Ich denke sogar, dass das Viertel bereits etwas Touristisches an sich hat. Sicher, es ist laut, eng, düster, aber es hat auch einen gewissen Charme. Ich kann mir sogar vorstellen, dass solch ein Viertel einmal in Mode kommen kann. Wenn erst einmal die Künstler beginnen, dort hinzuziehen, oder andere Trendsetter-Gruppen, dann verändern sich solche Orte oft schneller, als einem lieb ist. Ich werde es beobachten. In jedem Fall fand ich hier auch viele winzige Restaurants, in denen sich die Einheimischen trafen. Wenn ich wieder einmal hier bin, werde ich dort essen gehen. Ich bin sicher, dass es ausgezeichnet ist.
Je weiter ich in das Viertel eindrang, desto eigenartiger kam ich mir vor. Sicher war ich der einzige Tourist, der sich soweit vorwagte. Nicht dass es beängstigend gewesen wäre, es war eher ein Gefühl, etwas zu entdecken, das nicht so viele Leute sehen. Ich bekam durch meine Geduld beim Spazieren einige sog. Bassi zu sehen. Einzimmerappartements, deren einzige Tür sich sofort auf die Straße öffnet. Fenster haben übrigens die wenigsten.
Meinen Besuch rundete ich ab, in dem ich noch zum Dom lief. Er war gar nicht so leicht zu finden, versteckt sich ein wenig in einer stark-frequentierten Straße. Ich muss gestehen, dass ich mein Interesse für Kirchen etwas verloren habe. Es ist sicher ein schöner Barock-Bau, aber mir sagte er nichts weiter. Trotzdem kam er genau richtig, um mich von dem wieder einmal ausführlichen Marsch auszuruhen.
Als ich wieder auf die Straße trat, hörte ich Weihnachtsmusik. Sie schallte aus riesigen Megafonen, die überall an den Häusern angebracht sind, durch die ganze Stadt. Hier wurde mir das erste Mal bewusst, dass bald Weihnachten ist. Ich bin gespannt auf meine Reaktion auf meine Einsamkeit an diesem Tag. Eines weiß ich jetzt schon, ich werde mir ein kleines Festmahl kochen.
Neapel hat mir gut gefallen. Sicher, es ist nur der erste Eindruck, aber immerhin. Es hat etwas Verruchtes, vielleicht sogar Gefährliches. Es ist noch nicht fertig, kein Open-Air-Museum wie viele Städte in der Toskana. Die Fassade ist noch nicht geschmückt genug. Sicher werde ich eines Tages wiederkehren, denn mehr als einen oberflächlichen ersten Eindruck habe ich nicht bekommen können.
Morgen fahre ich wieder ab.
Der Süden ruft.