Wakehurst Place
Gestern passierte nicht mehr viel. Wir suchten nachmittags einen Campingplatz, dessen Betreiber unsere alte Transe misstrauisch beäugte. Warum um alles in der Welt sehe nur ich das immense Potenzial dieses Fahrzeugs, günstig und zuverlässig die Welt zu bereisen? Aber egal, ich möchte nie wieder an den Punkt zurückkommen, an dem ich mich für meine Art zu leben rechtfertigen muss.
Die Nacht war kalt und feucht und wir hatten beide einen Kater. Der schwere spanische Rotwein hatte einen noch schwereren Effekt.
Aber der Morgen entschädigte uns dann, denn die Sonne scheint gerade beinahe heiß. Wir werden heute weiter an unserer Erkundung der National Trust-Stätten arbeiten, von denen es hier einige gibt. Ganz sicher müssen wir uns entscheiden. Ich bin gespannt.
Es wurde eine lange Fahrt. 65 Kilometer sollten es eigentlich sein, doch es wurden einige mehr, aus einem einzigen Grund: Ich hörte nicht auf Garmin. Konzentriert achtete ich auf den Linksverkehr und die schmalen Landstraßen Englands, doch ab und an vergaß ich abzubiegen. Zweieinhalb Stunden später, nach einem Beinahe-Unfall mit einem Reh, kamen wir endlich gegen Mittag am Wakehurst Place an, der am meisten besuchten National Trust-Stätte in England. Es wurde ein weiteres Fest der Sinne. Für die glohrreich-blühenden Rhododendren und Azaleen kamen wir etwas zu spät, doch einige Pflanzen zeigten noch ihre Blüten. Wakehurst Place ist eher eine großangelegte Parklandschaft, ein Kunstwerk, das sich ständig verändert. Beinahe am Anfang der vielen Rundwege befindet sich das Jahrhunderte alte Mansion, Herrenhaus, dem man das Alter wunderbar ansieht. Verwittert und etwas schief trotzt es der Zeit, an den Seiten herrliche Pflanzen, von denen ich eigentlich nur Rosen kannte. Ein ebenfalls spektakulärer kleiner Garten, der von Mauern umgeben ist, scheint fast verschwindend klein im Vergleich zum riesigen Park, der viele verschiedene Themen beinhaltet. Als Erstes besuchten wir den Wassergarten, in dessen Hintergrund das malerische Haus zu sehen ist. Ein Bild wie gemalt. So sollte es sicher auch sein. Die Farben der Bäume ist vorsichtig ausbalanciert, nicht so knallig-krachend wie gestern in Sissinghurst, eher etwas zurückhaltend, doch nicht minder majestätisch.
Die schiere Weite der Landschaft allein ist gewaltig, Wildwiesen lösen sich mit sauberen Beeten ab, Seen strecken sich in die Länge und Felsenformationen bilden den passenden Rahmen für diese künstliche Landschaft, deren Ordnung oft genug vom Chaos der Natur stilvoll durchbrochen wird. Ich glaube, dass wir mindestens vier Kilometer weit liefen, ehe wir den Hauptrundweg vollendet hatten. Und alles haben wir letztlich gar nicht gesehen. Nach einer längeren Kaffeepause suchten wir uns noch einige Orte aus, die wir gesondert sehen wollten. Besonders die Passagen des Himalaya beeindruckten uns. Immer wieder war ich erstaunt, was alles im britischen Klima gedeihen kann.
Ich kann mich erinnern, dass ich vor einigen Jahren schon einmal hier war. Auch damals befand ich mich in einer Situation des Umbruchs. Meine Zeit in England lief aus, ohne dass ich es damals wusste. Wie in einem Ansturm von Panik besuchte ich damals noch Orte, die ich noch nicht gesehen hatte. Wakehurst Place gehörte dazu, entsprechend oberflächlich hatte ich es mir damals angesehen. Das war heute anders, auch wenn die Situation heute ähnlich ist. Auch jetzt weiß ich nicht genau, wie es wirklich weitergehen soll. Natürlich bin ich weiter, weiß, dass ich Schriftsteller bin, doch einen Weg zu einem finanzierbaren Leben habe ich noch nicht gefunden. Der Gedanke, etwas zu tun, nur um Geld zu verdienen, scheint mir barbarisch. Doch im gleichen Moment fühle ich mich schuldig, so zu denken, weil es genug Menschen auf der Welt gibt, die liebend gerne in der Situation wären, in der ich mich befinde, nämlich in der Lage zu sein, eine ganze Reihe von halbwegs lukrativen Jobs anzunehmen. Allerdings ist es trotzdem unerträglich, mir vorzustellen, zum Beispiel wieder in einem Call Centre zu arbeiten, den modernen Fabriken, in denen die Entmenschlichung genauso vorangetrieben wird, wie in den Herstellungsfarmen des frühindustriellen Manchesters. Ich weiß, dass dieser Ausdruck viele hart arbeitende Menschen beleidigen muss, doch nichts liegt mir ferner. Im Gegenteil. Vielleicht muss die Gesellschaft lernen, dass das, was als Kundendienst bekannt ist, ein Job ist, der Menschen verheizt, und zwar weil sie unhaltbare wirtschaftliche Entscheidungen einer anonymen Firma nach außen vertreten müssen. Ich jedenfalls habe mein Verhalten geändert, wenn ich mit diesen Leuten rede.
Um wieder auf mein Thema zurückzukommen, ich habe mir heute vorgenommen, meine Manuskripte öfter abzuschicken. Vielleicht ist es der englische Geist, der so tief in mir steckt, der mich dazu bringt, mein Schicksal in meine Hände zu nehmen. So wie ich es aus diesem Land kenne, das einem so viele Chancen bietet und genauso viele Risiken. Ein Freund von mir sagte einmal, dass England einem genauso viel zurückgibt wie man selbst bereit ist zu geben. Ich denke, dass dieser Satz sehr viel Wahrheit enthält. Und dass er ebenso auch überall auf der Welt gilt. Zwar können wir Deutsche uns auf das noch immer ausgezeichnete Sozialsystem verlassen, das aufgrund der Langsamkeit und Unbeweglichkeit deutscher Firmen zwar nötig ist, doch jegliche Kreativität von Menschen in Not abfedert. Im August ist es für mich damit vorbei. Somit stehe ich auf dem Seil ohne Netz. Ich möchte nicht noch einmal fallen.
Zufall oder nicht, wir besuchen morgen Chartwell, das Haus eines großen Vorbildes von mir, Sir Winston Churchil. If you go through hell, keep going. Genauso werde ich es auch machen. Niemand sonst hat mir beigebracht, dass ich einfach meinen Weg weitergehen muss, stur und stetig. Ohne nach rechts oder links zu schauen.
Er hat es vorgemacht. Morgen werde ich mich wieder daran erinnern