Manavgat

Gestern beobachtete ich einen Fischer. Ein mittelalter, untersetzter Mann mit langsamen Bewegungen warf seine Angel im Meer aus. Nichts brachte ihn aus der Ruhe. Immer wieder holte er die Leine ein, oft mit einem winzigen Fisch am Haken. Dann jedoch zappelte ein langer, aal-ähnlicher, silberner Leib an der Angel, wand sich, wehrte sich. Der Fischer tat gar nichts, ließ den Fisch zappeln, der in der Luft um sein Leben kämpfte. Lange geschah gar nichts, der Mann schaute der armseligen Kreatur zu, die immer schwächer wurde, sich schließlich kaum noch rührte. Dann erst begann der Fischer damit, sich um den Fang zu kümmern, den Fisch von seinen Qualen zu erlösen.
Diese kleine Geschichte erinnerte mich an viele meiner Erfahrungen in der freien Wirtschaft. Oft werden wir aus unserem Element gelockt, müssen uns winden, einen aussichtslosen Kampf kämpfen. Wir werden ignoriert wie der Fisch an dieser Angel, bis wir nicht weiter können. Zwar sterben wir nicht, aber wenn die Kraft erlahmt, sind wir gefügig, wehren uns nicht mehr, was einer Art Tod gleichkommt. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings noch: Wir haben die Wahl, den Köder zu schlucken oder nicht, während der Fisch nur den Instinkten folgt. Wir könnten anders, sind in der Lage, die Instinkte abzuschalten und die Angel zu erkennen. Aber trotzdem entscheiden wir uns oft dagegen, finden uns außerhalb unseres Lebensraumes wieder, vermissen unser Element, in dem wir gedeihen können und wundern uns, dass wir ersticken.

Der Fischer hat mir wieder einmal die Augen geöffnet. Man findet die weisesten Wahrheiten an den unwahrscheinlichsten Orten, lernt von den einfachsten Menschen, erkennt plötzlich die Fehler, die einen ein Leben lang begleitet haben. Man muss nur die Augen öffnen.
Diese kleine Geschichte habe ich gestern ebenfalls am Strand beobachtet. Erst heute jedoch hat sie die Bedeutung bekommen, die sie hat, denn erst heute ist mir eingefallen, dass ich darüber schreiben muss. Wie ein Geistesblitz, der erst kommt, wenn man bereit dazu ist.

Es ist der letzte Tag mit Nina zusammen. Anders als in der Provence dauerte unsere gemeinsame Zeit nur wenige Tage und ich bin gespannt, wie ich morgen darauf reagieren werde, wenn sie abgeflogen ist. Ein Teil von mir befürchtet, dass diese Erfahrung meine Reise beenden wird. Diese Befürchtung ist real. Genauso wie die Furcht davor, die Dunkelheit hier in den kommenden Wochen allein ertragen zu müssen. Es wird eine fordernde Zeit vor mir liegen, so viel steht fest. Denn wie ich mich auch entscheide, etwas in mir wird dabei verlieren, der Reisende oder der Lebenspartner. Komisch, dass sich die beiden noch immer so bekriegen. Bevor ich jetzt in Lethargie verfalle oder melancholisch werde, verschiebe ich diese Gefühle auf Morgen, die Zeit also, in die der Abschied gehört. Heute sind wir noch zusammen, wir genießen es beide. Ich werde ein letztes Mal kochen, vegetarisch, denn Nina hat sich entschieden, von nun an kein Fleisch mehr zu essen. Es ist eigenartig, denn ich erinnere mich, vor Monaten ebenfalls darüber nachgedacht zu haben. Ohne aber so konsequent zu sein, doch wenn es Zeit dazu ist, werde ich vielleicht folgen. Noch möchte ich nicht verzichten. Ab morgen gibt es wieder Hühnchen und saftige Schweinesteaks. Zumindest manchmal.

Unseren letzten Tag heute haben wir ruhig angehen lassen. Ich hatte von einem Wasserfall in der Nähe von Manavgat gelesen, den wollten wir uns ansehen. Es war eine traurige Angelegenheit. Ein winziges Bächlein floss anderthalb Meter nach unten, doch die Aussichtsterrassen, die man sicher so nicht nennen kann, waren von Restaurants und Souvenirgeschäften umrahmt. Ein Trubel also, der dieser „Attraktion“ nicht gerecht wird. Auch wurden unsere Taschen gescannt, damit wir keine Bombe in den Komplex schmuggeln konnten. Wahrscheinlich besteht die Befürchtung, dass jemand so sauer ist, wegen dieses Bächleins Eintritt gezahlt zu haben, dass er es mitsamt den schmierigen Restaurants in die Luft sprengt.
Da wir danach noch keine Lust hatten, zum Platz zu fahren, schauten wir uns Manavgat an. Das Zentrum hatten wir vorher eher zufällig gefunden, es sah zumindest nett aus. Der Rough Guide erwähnte Manavgat zwar, befindet den Ort aber als langweilig. Ich kann sagen, dass es eben eine normale türkische Stadt ist, in der der Tourismus nicht die Rolle spielt wie in Side, das nur wenige Kilometer entfernt liegt. Es war dennoch eine Freude, durch die Straßen zu laufen, ohne von allen Seiten angesprochen zu werden. Das begann allerdings, als wir das Flussufer gefunden hatten. Dort boten „Touts“ Bootsfahrten zu dem Wasserfall an. Es gibt Punkte, da würde ich den Leuten gerne die Meinung darüber sagen. Am Ende tat ich es nicht, warum auch. Es ist schließlich alles, was sie haben. Traurig. Denn eigentlich haben sie viel mehr, eine normale türkische Stadt in Küstennähe. Eine Seltenheit, für die ich ihnen sehr dankbar bin. Denn wir setzten uns in eine Bar am Ufer, die Einheimischen genossen hier Tee oder Raki, was auch immer. Hier saßen wir lange, sahen dem Fluss und den Menschen zu, waren sehr still, sicher wegen des bevorstehenden Abschieds.

Dann war es vorbei, die Zeit unserer gemeinsamen Ausflüge. Die Sonne warf schon lange Schatten, auch wenn es erst halb drei war. Eine letzte gemeinsame Entscheidung, was das Dinner anging, dann kehrten wir auf zum Campingplatz zurück.
Ich muss gestehen, dass ich morgen froh sein werde, hier abzufahren. Ich rede nur von diesem Platz. Er ist verbraucht, die Gegend erkundet. Er liegt im Nirgendwo, ist einsam und sicher ab morgen schwer zu ertragen. Auch entscheiden sich die Besitzer ab und an, um zwei Uhr morgens eine halbe Stunde zu feiern und zu tanzen. Und das geht hier nie ohne unerträgliche Discomucke und durchdringende Bässe. Um zwei habe ich meine Tiefschlafphase, was in Fällen eines erzwungenen Erwachens zu schlechtester Laune führt. Also ist es Zeit, endlich neue Ufer zu erkunden.
Ich werde sicher noch ein wenig weiter fahren. Ich habe den westlichsten Punkt des Mittelmeeres erfahren, es wäre vielleicht angebracht, es wenigstens bis zum östlichsten zu schaffen. Dieser liegt noch weit entfernt, mehrere Hundert Kilometer. Morgen wird alles anders. Vielleicht ist mir dieses zweifelhafte Ziel dann nicht mehr wichtig.
Wir werden sehen.