Rethymno, minoischer Friedhof Armenoi

Die Nacht war eigenartig.
Ich wachte irgendwann nachts auf, vielleicht gegen ein Uhr und wunderte mich über den Krach. Es donnerte heftig. Aber es war kein Gewitter, sondern ein undefinierbares Rumpeln, eher ohne Unterbrechungen. Es dauerte etwas, bis ich es lokalisieren konnte. Es war das Meer. Dann erst stellte ich fest, dass der Wind am Zelt zerrte. Also ein kleiner Sturm?
Ich dachte mir nichts weiter dabei, setzte mir die Ohrenstöpsel ein und versuchte, weiterzuschlafen. Es gelang mehr schlecht als recht.
Am Morgen dann, der viel zu spät gegen sieben begann, erblickte ich finstere Regenwolken. Es bestand kein Zweifel, dass es Niederschlag geben würde. Ich hatte noch Glück, denn meine zum Trocknen aufgehängten Sachen würden trocken bleiben, weil ich sie rechtzeitig ins Zelt verfrachtete. Mit Regen hatte ich nicht gerechnet.
Es begann dann auch ein paar Minuten später. Sicher, nur eine kleine Husche, aber die hatte es in sich. Mein Zelt war natürlich für so etwas nicht aufgestellt. Ich bin nachlässig. Zwei Heringe mehr im Boden und die Sache wäre stabiler gewesen. Nachdem es wieder aufgehört hatte, holte ich dieses Versäumnis nach.
Es ist immer so, dass ein Regenschauer die Luft abkühlen lässt. Zumindest in Deutschland. Hier aber war das gerade nicht so, es war trotzdem noch recht mild, allerdings ohne die Hitze der letzten Tage. Ich las im Internet, dass in Griechenland eine kleine Kältewelle eingesetzt hatte. Es war, wie es war.
Meine Yogasession am Strand aber war erfolgreich. Ein Mittelklasseflow, den ich schon öfter gemacht hatte, entpuppte sich als anders. Im Sand ist es wirklich herausfordernder. Alleine der herabschauende Hund stellt eine kleine Schwierigkeit dar. Oder ein Chattaranga mit einem Bein in der Luft. Oder jede andere Asana. Es ist eben anders. Aber unglaublich interessant.
Hatte ich während der Session noch Sonne genießen können, verschwand diese vollends und ward bis jetzt, 17 Uhr, auch nicht mehr gesehen.

Was mir bevorstand, war eine kleine Radtour, so dachte ich zumindest.
Am Tag zuvor hatte ich im archäologischen Museum Funde aus der minoischen Gräberstätte bei Armenoi besichtigt. Das liegt ca. 9 Kilometer von Rethymno entfernt.
Gegen 20 nach Zehn machte ich mich auf den Weg, erst in die Stadt, um meinen defekten Kaffeebecher zu ersetzen, dann weiter in Richtung Stadtrand, von dort sollten es noch ein paar Kilometer sein. Mein OSmand-Navi teilte mir mit, dass ich über 350 Höhenmeter erwarten musste. Was es mir aber nicht mitteilte – oder besser, was ich übersah, denn man kann das durchaus sehen – es geht die ganze Zeit nach oben, mal mehr, mal weniger steil. Und das auf dieser relativ kurzen Strecke. Ich bin dafür einfach nicht gemacht. Mein Rad wahrscheinlich auch nicht. Schon nach kurzer Zeit begann ich, es zu schieben. Ich habe dabei keinen Stolz mehr zu verlieren. Es ist eben, wie es ist. Meine dünnen Beine haben nicht die Voraussetzung dafür, diese Höhenmeter anzugehen. Wahrscheinlich bin ich auch zu untrainiert. Vielleicht ginge es mit einem Mountainbike mit 24 Gängen. Aber meine acht Gänge des Tern reichten bei weitem nicht.
Es war auch keine schöne Strecke, immer am Straßenrand entlang, LKWs oder PKWs, die nur wenige Zentimeter an mir vorbeirauschten. Griechenland ist an manchen Stellen auch wirklich dreckig, überall hingen Plastiktüten oder alte Wasserflaschen im Gestrüpp der verdorrten Sträucher. Ab und zu setzte ich mich aber auf das Rad, um wenigstens etwas Zeit zurückzugewinnen. Unter normalen Umständen sind ein paar Kilometer nicht der Rede wert, eine halbe Stunde vielleicht. Aber durch das Schieben wurde eben mehr als eine Stunde daraus. Ich weiß es gar nicht genau.
Irgendwann, ich radelte gerade wieder, tönte das Navi in meinen Bluetooth-Kopfhörer: 300 Meter, rechts abbiegen.
Es war fast geschafft.
Ich war wirklich angekommen.
Der minoische Friedhof lag vor mir.
Drei Euro musste ich berappen, nicht viel für solch eine Fundstelle, dann konnte ich ihn besichtigen.
Der Friedhof besteht aus in den weichen Stein gehauene Gräber unterschiedlicher Tiefe. Es sind quasi Löcher in der Erde, die sich in den Berg hineinschneiden, nach unten hin natürlich tiefer werden, bis zur Grabkammer hin. Die meisten Kammern sind nur ein oder zwei Quadratmeter groß. Das größte Grab aber, das man auch besichtigen kann, ist großzügiger. Diese Gräber sind im Laufe der Generationen öfter benutzt worden, wahrscheinlich immer von den gleichen Familien, wobei man die Knochen der ursprünglichen Besitzer separat gesammelt hat. Die sind offensichtlich erhalten, denn man konnte feststellen, dass die Kindersterblichkeit hoch war, dass Frauen im Schnitt nur ungefähr 25 Jahre alt wurden, die Männer hingegen im Schnitt eher in den 30ern lagen. Nicht sehr alt für eine solch entwickelte Gesellschaft, wie ich fand. Wenn man das mit heute vergleicht. Ehefrau Nina wäre schon 15 Jahre tot, mindestens. Ich auch, wobei wir uns wahrscheinlich gar nicht getroffen hätten. Wir haben heute also ein biblisches Alter im Vergleich. Ob das gut ist, lasse ich mal offen. Wir haben ja ein eigenartiges Verhältnis zum Tod. Unsere Haustiere jedenfalls behandeln wir besser, wenn die tödlich erkrankt sind. Die lassen wir nicht leiden. Aber das geht jetzt und hier zu weit.
An den Gräberfeldern sind eine Reihe von Infotafeln aufgestellt, einige Fundstücke, die abgebildet waren, erkannte ich wieder. Es ist nun einmal so, dass oft das, was irgendwo ausgegraben wird, in einem Museum verschwindet, in diesem Fall im Museum in Rhetymno, das ich am Vortag besucht hatte. Und somit vom Fundort abgeschnitten wird. Ich kenne das zum Beispiel aus Mykene. Vorbildlich hingegen ist es in Olympia, wo ein hervorragendes Museum gleich neben den Ruinen existiert. Das ist besser, dann geht der Bezug nicht verloren.
Während ich durch den Friedhof lief, kamen mir die Gedanken, dass das hier ein Ort der Erinnerung gewesen ist. Für Menschen, die nicht nur schon lange nicht mehr existieren, sondern deren Kultur ebenfalls fast unkenntlich verschwunden ist. Ich meine, was wissen wir schon über die Minoer? Dass sie Paläste gebaut haben? Ja, haben sie. Dass sie einen einzigartigen Sinn für Kunst hatten? Ja, das ahnen wir. Und dass sie sicher großartige Händler gewesen sind, anders hätten sie sich diesen Luxus in Knossos nicht leisten können. Auf der anderen Seite, auf der des Nichtwissens, steht im Grunde fast alles andere. Wir kennen nicht ihre Lieder, ihre Gedichte, ihre Geschichten, ihre Musik. Wir wissen nicht, was sie dachten oder an was sie wirklich glaubten. Anders als zum Beispiel in Ägypten ist die entscheidende Schrift Linear A noch nicht entziffert. Vielleicht erfahren wir also eines Tages mehr.
Ich kenne nun also den Palast von Knossos, weiß, wie die Minoer ihre Toten beerdigt haben. Was ich aber nicht weiß, ist, wie ein einfacher Minoer lebte. Nicht jeder wird über wilde Stiere gesprungen sein. Es ist wie fast immer: Man kennt ein wenig das Leben des oberen 1%. Der Rest ist weiterhin rätselhaft. Dabei wäre es viel interessanter. Denn dort, bei den 99%, wird gelebt. Eben zu 99%.
Machen wir uns nichts vor. Manches ändert sich kaum. Bis heute nicht.
Nach einer Dreiviertelstunde hatte ich alles gesehen und gelesen. Und ich sah die bedrohlichen Wolken, die aufzogen. Trotzdem fuhr ich noch ein kleines Stück weiter, ins Dorf Armenoi. Vielleicht noch einen Kilometer. Es war nicht besonders sehenswert. Trotzdem ist so ein Ausflug interessant. Ich entdeckte hier zwei Tavernen, ein Café, eine Bäckerei, aus der es verführerisch roch, Zimt und Zucker, würde ich sagen, und zwei Supermärkte. Beachtlich.
Dann wendete ich und fuhr in Richtung Rethymno.
Natürlich war das leicht.
Immer den Berg hinunter. Was ich vorher so mühsam erklommen hatte, drosch ich jetzt einfach hinab. Ich muss gestehen, dass ich mich mit Abwärts-Geschwindigkeit und Dauerschwindel aufgrund von Morbus Menier unsicher fühle, daher fahre ich bei weitem nicht so schnell wie andere. Aber das ist eigentlich die einzige Einschränkung. Leider begann es auf halber Strecke wieder zu regnen, und zwar nicht zu knapp. Unangenehm. Ich stellte mich unter, witzigerweise bei einem Geschäft für das honigproduzierende Gewerbe, das mitten in der Landschaft sein Geschäft betreibt. Ich denke, dass sie auf den Onlinehandel umgestiegen sind. Wer braucht sonst solche Nischenprodukte in der Gegend in dieser Menge?
Irgendwann hatte ich genug, als der Regen nachgelassen hatte, ich machte mich wieder auf den Weg. Nur um in einen erneuten Schwall hineinzufahren. Dieses Mal suchte ich unter Bäumen Schutz. Es war jetzt kühl und unangenehm, vor allem in den Shorts und Sandalen. Wenigstens hatte ich mein langes Hemd dabei. Aber warm hielt das auch nicht.
Gewitter-Huschen wie diese lassen zum Glück rasch nach, ich erreichte ein Café, lunchte dort einen Espresso Freddo und ein wirklich gutes Sandwich.
Schließlich erreichte ich wieder Rethymno.