Sonntag.
Immer der Tag, den ich als Reisender niemals zum Reisen, in diesem Fall Standortwechsel, benutzen möchte. Es fahren kaum Busse und Bahnen, alles ist zu oder sollte es sein. Heute machte das nichts, denn ich war ja gestern erst angekommen. Die Sonne brillierte, als hätte sie nichts anderes zu tun. Der Himmel präsentierte sich wolkenlos, eine leichte Brise wehte. Es ist eigenartig. Ich habe ein Jahr in der Bretagne gewohnt, meist hat es wohl geregnet, haben mir Komilitonen. Doch ist es diese Atmosphäre heute, an die ich mich erinnere. Aus meiner Sicht ist es heute typisch bretonisches Wetter. Wetter für das Meer, voller Farben und Gerüche, ohne die erschöpfende Hitze des Südens. Also wirklich das Beste vom Besten. Und das Allerbeste: Heute ist Markttag in Carnac.

Gestern, beim Einkaufen, hatte ich darauf geachtet, mich für einen Tag weniger als notwendig einzudecken. Ich wollte mich zwingen, endlich meinen Geiz zu überwinden und gute Ware einzukaufen. Es gelang.

Der Markt in Carnac ist gewaltig. Ein riesiger Parkplatz muss herhalten, ebenso wie angrenzende Gassen. Ich fing im Grunde am falschen Ende an, wenn man so etwas sagen kann. Billige Kleidung und Taschen interessierten mich nicht. Aquarelle eines bretonischen Künstlers schon eher. Aber ich konnte sie nicht transportieren, also ließ ich mir die Visitenkarte geben. Wer weiß? Einige Meter weiter begann der Teil des Marktes, der für Lebensmittel reserviert ist. Im Grunde der ganze Parkplatz. Es roch nach frischen Erdbeeren, die in Massen angeboten wurden, und Melonen, die Händler zum Probieren stückchenweise anboten. Auch Wurst wurde mir von allen Seiten in die Hand gedrückt, aber der Sinn stand mir nach Käse. Und zwar genug für das Abendessen und Lunch.

Die Auswahl am nächsten Stand überwältigte mich. Fromage du Chêvre kenn ich, den wollte ich nicht schon wieder essen. Mein Instinkt ließ mich einen anderen wählen, der gut aussah. So gut, dass er mich an etwas erinnerte. Erst später sollte ich diesen Wink des Schicksals verstehen. Der Käse kostete durchaus mehr, als ich sonst dafür ausgebe. Ich war ein bisschen stolz, hatte ich doch meine Zurückhaltung überwunden. Ein Baguette Tradition und ein paar Tomaten rundeten meinen Einkauf ab. Es klingt nicht nach viel, aber ich kaufe täglich nur das ein, was ich auch verbrauchen kann. Das ist wenig, viel weniger, als man sich vorstellen kann. Es ist ein einfaches Leben, aber ein vollkommen erfülltes. Nach meinem ausgiebigen Marktbesuch zog es mich ans Meer. Es musste einfach sein. Hier der Atlantik. Ein echter Ozean. Kein innerkontinentaler Tümpel wie das Mittelmeer, das ich liebe. Er rief so laut, dass ich es kaum überhören konnte. Normalerweise bin ich fasziniert von den Bergen. Aber ab und zu schafft es auch das Meer, zu mir durchzudringen. Es ist nicht weit entfernt von Carnac Ville. Und doch ist es, als würde man eine unsichtbare Grenze passieren. Die Menschen, die sich in Carnac Ville aufhalten, sind wegen der Hinkelsteine hier. Die, welche Carnac Plage besuchen, wollen Strand und Sonne erleben. Selten habe ich eine so saubere Trennung von Kultur und Erholung erlebt. Urplötzlich tauchten die bekannten Strandshops, die günstigen Restaurants und Eiscremeläden auf. Es ist eine andere Welt, die sich kaum mit der vermischt, aus der ich gerade kam. Ich ignorierte den Trubel um mich herum. Und stand kurz darauf am Strand. Grand Plage. Den Namen verdient er auch: fast weißer Sand, bei Ebbe gigantisch weit, auf dem Hunderte Besucher sich beinah verlieren. Ich zog meine viel zu dicken Wanderschuhe aus und genoss den feinen Sand an meinen Füßen. Da ich nächstes Jahr den Jakobsweg wandern möchte, sammelte ich eine Jakobsmuschel (Anmerkung vier Jahre später: den Jakobsweg bin ich nie gelaufen). Zumindest sieht sie so aus, ist aber viel kleiner. Ich werde einen Anhänger daraus machen lassen.

Carnac

Ich passierte den Grand Plage und erreichte einen kleineren Strand westlich davon. Hier waren weniger Menschen unterwegs, auch weil dieser Teil noch nicht von den Touristen erobert worden ist. Die Shops fehlten. Ich setzte mich, denn es war Zeit zu lunchen. Das Baguette krachte auseinander, die dicke Kruste wollte kaum nachgeben. Das Brot war innen saftig weich, ein kulinarisches Kunstwerk eben. Jetzt der Käse, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt hatte. Es war der gleiche Käse, den mein Vater bei unserem letzten gemeinsamen Essen in Berlin serviert hatte. Das ist gut elf Jahre her. Er hatte ihn extra an der Käsetheke eines teuren Supermarktes gekauft. Ich erinnerte mich sofort an den würzigen und leicht fauligen Geschmack. Erinnerungen überkamen mich. Auch die an die Bretagne von 1998. Mein Vater hat mich während meines Studiums hier zusammen mit meiner Schwester besucht. Hier, in Carnac, sind wir damals für zwei Tage untergekommen. Ist das nicht alles merkwürdig? Ein Kreis schloss sich, mit einem unverhofften kulinarischen Gruß aus der Vergangenheit. Das hat auch etwas Besonderes, dass ich den Namen des Käses nicht weiß. Ich werde es heraus bekommen. Auch weil er zu den leckersten Käsesorten gehört, die ich kenne. (Anmerkung Jahre später: ich habe es wirklich herausbekommen. Bei dem Käse handelte es sich um einen Pont l’Évêque, einen Käse aus der Normandie)

Ein kleines Café in der Nähe diente mir für das Führen dieses Journals. Es geht gut, das „Von-Hand-schreiben“ (ich führte meine Aufzeichnungen damals handschriftlich, sehr zu meinem Ärger jetzt, denn ich muss alles abtippen oder diktieren. Alptraum), auch wenn es mich mehr anstrengt, als das Tippen. Aber das ist Gewöhnungssache. Auf meinem Rückweg kam ich noch am Tumulus St. Michel vorbei, eine Grabanlage aus der Steinzeit (glaube ich). Sie ist nicht mehr betretbar. Das war mal anders, auch wenn ich mich an den Besuch leider nicht mehr genau erinnern kann. Es muss 1998 zusammen mit meiner Schwester und meinen Vater gewesen sein. Sei es drum.
Ich besuchte noch einige Hinkelsteinfelder. Die Steine schienen immer größer zu werden. Die Menschen um mich herum beobachteten sie stumm und ehrfurchtsvoll. So wie ich auch. Diese Steinreihen sind einfach ein Rätsel, das alle wundert und fasziniert.

Den Abend ließ ich wieder mit dem Käse ausklingen und einigen Gläsern Rotwein. Es war warm genug, um draußen zu sitzen.
Ein perfekter Reisetag.

Carnac