Istanbul

So ein verdammter Mist. Einmal wieder trifft die alte Weisheit zu: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Aber ich greife vor.

Die Nacht konnte sich nicht entscheiden, ob sie kalt oder mild werden wollte. Daher hatte sie von beidem etwas, was dazu führte, dass ich erst fror, dann, als ich endlich die zweite Decke über mich geworfen hatte, schwitze. Beides führte nicht gerade zur erholsamen Nachtruhe. Trotzalledem merkte ich, dass der gestrige ereignislose Tag mir gut getan hatte. Die Erfrischung und der Tatendrang waren wieder da. Durch eine etwas längere Unterhaltung mit zwei „Scousern“ verlor ich etwas Zeit, doch bekam ich so viele Tipps und Visitenkarten von guten Campingplätzen im Süden der Türkei, dass allein das die kurze Verzögerung wert war. Das Rumpeln im Radkasten versuchte ich so gut es ging zu ignorieren, stelle aber fest, dass sich dadurch das Problem nicht lösen wird. Das geschieht irgendwie nie, andere sitzen Sachen aus, bei mir klappt das nicht. Dennoch, das hier ist nicht der richtige Ort, ich werde es etwas weiter im Süden probieren, wo mir vielleicht die Platzbesitzer helfen können, eine geeignete Werkstatt zu finden. So lange muss die Transe eben durchhalten. (Anmerkung 18 Monate später: Es wurde nie zum Problem. Das zumindest nicht.)

Trotz der Verspätung saß ich kurz nach neun im Bus. Diesmal hatte ich Glück und die Fahrt dauerte nicht lange, nicht einmal eine Stunde bis zur Metro Yenibosna. Heute sollte Moscheentag werden – oder Kirchentag, je nachdem wie man die Hagia Sophia betrachtet. Ohne viele Umschweife nahm ich auch die Tram bei Aksaray, die mich direkt zum Ziel fahren sollte, ohne viele Umschweife und anderweitige Erschöpfungen. Eine Laune ließ mich erst in Richtung Hypodrom wandern. Wie der Name schon sagt, der ehemalige „Circus Maximus“ für Wagenrennen. Ab und an sieht man noch Ruinen, aber eigentlich ist nichts mehr übrig außer einer Parkanlage. Hier sah ich auch das älteste Bauwerk der Stadt, wenn man es so bezeichnen möchte: einen Obelisken aus Ägypten, mehr als 3000 Jahre alt. Er ist so perfekt erhalten, die Hieroglyphen so scharf und stechend, dass man meinen könnte, es mit einem Werk aus jüngster Vergangenheit zutun zu haben. Dahinter entdeckte ich eine uralte, gedrehte Bronzesäule, über die ich noch lesen muss, was sie ist. Ein eigenartiges Gebilde, das auf dem gleichen Straßenniveau wie der Obelisk steht, also sicher zwei Meter unter dem jetzigen, somit dürfte auch sie antik sein.

Dann ging ich zur Blauen Moschee, die direkt ans Hypodrom angrenzt. Es ist eine gewaltige Anlage. Ich ignorierte das Eingangsschild und ging direkt in den Innenhof, was mir den Blick auf das prächtige Portal und den Brunnen in der Mitte freigab. Wenn man von der Seite her diesen Hof betritt, ist der erste Eindruck bei Weitem nicht so spektakulär. Sechs Minarette ragen in den Himmel, genauso viele wie in Mekka, was im siebzehnten Jahrhundert für Kontroversen gesorgt hat. In die Moschee selbst kam ich von hier nicht hinein, dazu musste ich wieder aus dem Hof zum Seiteneingang. Klar, der für Ungläubige. Muslime kommen auch vorne hinein. Natürlich musste ich meine Schuhe ausziehen, dann hatte ich es endlich geschafft: Ich stand das erste Mal in meinem Leben in einer Moschee. In Marokko war es mir nie gelungen, diejenige in Casablanca war damals am Sonntag nicht geöffnet gewesen. Hier aber konnte ich hinein.
Was mir als Erstes auffiel war der weiche Teppich unter meinen Füßen. Jedem geplagten Wanderer muss es eine Wohltat sein, in diese Moschee zu gehen.
Das Gebäude ist gewaltig, vier riesige Säulen, die Elefantenbeine genannt werden – völlig zurecht, wie ich finde – tragen eine majestätische Kuppel. Das Innendekor ist recht farbig, aber größtenteils blau, daher der Name der Moschee. In der oberen Etage sind die Wände mit den berühmten Fliesen geschmückt, wertvolle Arbeiten, auch wenn ich einige Beispiele im Archäologischen Museum schöner gefunden hatte.
Die Weite des Raumes in der Blauen Moschee ist vielleicht das beeindruckendste, auch wenn mir eine feierliche Atmosphäre nicht aufgefallen ist. Aber vielleicht lag das an den vielen Touristen, die sich diese Attraktion natürlich nicht haben entgehen lassen.

Draußen sah ich dann direkt auf die Hagia Sophia, das schönste Bild von diesem einmaligen Bauwerk, das ich bislang sehen durfte. Ich lief darauf zu, wunderte mich, dass es dort anders als sonst so leer war. Sollte ich Glück haben und mir das Hagia nicht mit allzu vielen Touristen teilen müssen? Der Freude folgte die Ernüchterung. Denn das Eingangstor war zu, niemand stand davor. Ein Blick auf das Schild teilte mir mit, dass der Eintritt 20 Lira koste und die Öffnungszeiten von 9 – 17 Uhr wären. Es war kurz nach zwölf. Ein Blick in meinen Rough Guide gab mir die grauenhafte Gewissheit: Montag war Ruhetag. Ich habe vier Tage gebraucht, um mich endlich dazu durchzuringen, den für mich teuren Eintritt zu zahlen. Und wurde für mein Zögern bestraft. In diesem Jahr werde ich die Hagia Sophia nicht sehen, das muss also warten, bis ich mit Nina einmal herkomme. Ich könnte mich ärgern, über mich selbst.

Plötzlich hatte ich viel Zeit, es war noch verhältnismäßig früh und ich wusste nicht so recht, was anfangen, also flanierte ich zum Wasser. Dort erinnerte ich mich an das Buch, das ich kürzlich gelesen hatte, „Turbane in Venedig“. Der Protagonist fuhr oft mit den Fähren, einfach nur so – in Venedig und Istanbul. Eine davon sollte in Kürze abfahren, also kaufte ich mir zwei sehr günstige Tokens und lief durch die Barriere, ohne genau zu wissen, wo mich meine Reise hinführen würde. Irgendwo würde das Boot schon anlegen, das tun sie ja meistens früher oder später. Es war vielleicht eine der besten Entscheidungen meines Istanbulbesuchs. Für umgerechnet 75 Cents bekam ich eine 25-minütige Dampferfahrt von Europa nach Asien. Und es stimmt, Istanbul muss man vom Wasser aus sehen, sonst wird man die Stadt nie erfassen. Eine völlig unbekannte Welt öffnete sich mir, denn hinter dem Galataturm sah ich ein modernes Geschäftsviertel à la Canaray Wharf in Londin. Und ich hatte noch mehr Glück, denn die Fähre brachte mich direkt auf die asiatische Seite. So erfüllte sich endlich dieser lang ersehnte Wunsch. Auf der anderen Seite aß ich erst einmal ein Fischbrötchen, günstiger und besser als auf der europäischen Seite, so dass ich das Fahrgeld beinahe schon heraus hatte. Hier schlenderte ich durch die Straßen, fand einen Markt, es war rundum eine türkische, keine touristische, Angelegenheit. Das machte es so angenehm, auch wenn ich angestarrt wurde wie ein Außerirdischer. Aber daran habe ich mich gewöhnt, auch weil die Türken bei Weitem nicht so aufdringlich sind wie die Marokkaner.

Nach einer Stunde nahm ich das Boot zurück, diesmal war es ein wirklich alter Kahn. Mir fiel auf, dass ein Kellner Tee servierte, viele Einheimische nahmen das Angebot an, für 1 TL gab es ein kleines Gläschen. Ich war natürlich wieder einmal zu langsam, aber das hole ich schon mal nach. Langsam war es Zeit, Abschied zu nehmen. Als wir angelegt hatten, blickte ich vom Ufer aufs Wasser, das Goldenen Horn vor mir. Die Angler auf der Brücke, die auch den winzigsten Fisch an Land ziehen, angelten wie immer um die Wette und die Minarette recken sich wie die Lanzen von Wächtern stumm in den Himmel. Es ist wahrhaftig eine besondere Stadt, so alt, so erhaben, auch modern und zielstrebig. In jedem Fall ist sie die größte Metropole, die ich bis jetzt gesehen habe. Dass ich in vier Tagen nur den vagesten aller Eindrücke gewonnen habe, weiß selbst ich. Istanbul ist einer der wenigen Orte, en ich mehrmals besuchen kann, ohne ein schales Gefühl von Langerweile zu bekommen.
Aber ich war noch nicht ganz fertig heute. Durch Zufall fand ich den sog. ägyptischen Basar, ehemals ein Gewürzbasar. Es ist sehr atmosphärisch, wäre es aber noch mehr, wenn nicht so viel Schund angeboten würde. Die wenigen Gewürzstände sind teuer und bieten kaum Auswahl, so empfand ich es wenigstens. Sagt der, der sich in Essaouira für 30 Euro Gewürze aufschwatzen lässt…..

Ich lief weitert durch die engen Gassen um den großen Basar herum, immer bergauf, in der Hoffnung, die große Sultan-Ahmed-Moschee zu entdecken. Aber soweit kam es nicht. Irgendwann stand ich auf der Straße Richtung Aksaray, es war schon halb fünf und ich wusste, dass mein Besuch damit beendet war. Alles, was ich versäumt habe, ist eine Chance zum Wiederkommen. Und es gibt noch so viel zu sehen und zu entdecken.

Morgen fahre ich ab. Ob ich schon die Dardanellen passiere oder nicht, werde ich spontan entscheiden. Vielleicht mache ich einen Tag Pause und sehe mir die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs an. Obwohl das eigentlich nicht zu meinen vorrangigen Interessen zählt. In jedem Fall war die Schlacht von Galipoli der Anfang einer großen Karriere: Atatürk befehligte erfolgreich die türkischen Truppen. Und sie war beinahe das Ende einer anderen Karriere: Winston Churchill, der nach seiner Niederlage hier erst einmal von der Bildfläche verschwand. Vielleicht hat er dadurch gelernt, nie aufzugeben, der Umstand, der England vor dem polnischen Schicksal bewahrte. Es zeigt sich, dass Niederlagen uns immer stärker machen. Menschen, die nur zu siegen gewohnt sind, werden nach Niederschlägen nicht so einfach aufstehen. Alle wirklich erfolgreichen Menschen haben diese Erfahrung gemacht: Die Niederlagen zu kennen, sie erlebt zu haben. Und trotzdem immer wieder gekommen sind.