Palermo

„Quod sumus, hoc eritis. Fuimos quandoque, quod estis.“
Was wir sind, werdet ihr sein. Was ihr seid, waren wir einst.

Das war das Motto des heutigen Tages. Die Nacht war kalt gewesen, ungewöhnlich anscheinend für diese Gegend. Die Feuchtigkeit setzte sich überall fest, so dass ich mit eisigen Füßen erwachte. Kein Wunder also, dass ich Ewigkeiten brauchte, um mich wie ein Mensch zu fühlen. So also machte ich mich erst gegen elf auf den Weg in die Stadt. Ein großer Fehler. Alles macht hier um die Mittagszeit zu, öffnet erst wieder am späten Nachmittag. Der Verkehr war mörderisch, der Bus schob sich oft nur zentimeterweit nach vorne, musste oft anderen Vehikeln ausweichen, was manchmal zu halsbrecherischen Manövern führte. aber es ging immer gut. Natürlich kam ich dadurch erst um die Mittagszeit an, was trotzdem hieß, dass ich genug Zeit hatte, mich umzusehen.
Ich stieg bereits am Theater aus, weil der Bus sich sowieso kaum mehr bewegte. Ich lief die gleiche Straße entlang wie gestern, doch die wirkte völlig anders. Palermo ist unglaublich geschäftig, dagegen war der gestrige Sonntag die Ruhe auf Erden. Nun endlich fand ich den Piazza Canti, den ich gestern verpasst hatte. Kein Wunder, denn er sieht kaum aus wie ein Platz. Hatte ich einen grandiosen Ort erwartet, mit einem Park in der Mitte und Palmen drum herum, wurde ich enttäuscht. Es ist eher eine barocke Kreuzung. Die schmutzig-gelben Steine und weißen-grauen Statuen hatte ich am Sonntag zu Recht übersehen, obwohl ich das öfteren in der Nähe gewesen war. Auch die Hauptstraße Vittorio Emanuelle ist kaum zu erkennen, denn der Verkehr lässt kaum Sicht auf das westliche Tor in der Ferne. In jedem Fall begann ich aber, die Stadt langsam zu begreifen. Gestern war ich bereits im Zentrum gewesen, hatte, ohne es zu wissen, die meisten interessanten Orte zumindest gefunden, ohne es zu wissen. Ich erinnerte mich an die Gegend, die mir so unheimlich vorkam. Kein Wunder, es hatte sich um Viertel, vor denen sogar der Rough Guide warnt. Also funktionieren meine Antennen.

Heute aber wollte ich etwas anderes. Eher zufällig kam ich an einem alten, barocken und ziemlich zerfallenen Palast vorbei. Er hatte geöffnet und ich ergriff meine Chance und ging hinein. Innen war er prächtiger, strahlte noch etwas von der alten Herrlichkeit aus, die ihm außen abhandengekommen ist. Leider waren nur zwei Säle geöffnet, doch es reichte, um einen Eindruck zu bekommen. Die Wände waren mit goldenen Türen geschmückt, über denen sich Fresken befanden. An der Decke prangte Stuck. Im zweiten Saal waren zwei Gemälde ausgestellt, beide wahrscheinlich gerade restauriert und offensichtlich Anlass des geöffneten Palazzos. Es gab viele Hinweistafeln mit Erklärung, allesamt auf italienisch. Somit war ich ausgeschlossen, verstand kaum, worum es ging. Ein solcher Ort bleibt einem dadurch verschlossen, denn erst die kleinen Geschichten dahinter lassen ihn wieder lebendig werden. Daher dauerte meine Besichtigung nicht sehr lange.

In einiger Entfernung fand ich den Dom. Ich fühlte mich an Sevilla erinnert, könnte meinen, maurische Architektur wiedergefunden zu haben. Besonders der Glockenturm sieht aus wie das Minarett in Sevilla, heute Glockenturm der Kathedrale der andalusischen Stadt. Der Dom gefiel mir deshalb auf Anhieb. Vielleicht auch, weil sich der helle Sandstein, aus dem er erschaffen ist, so wunderbar vom tiefen Hellblau des Himmels abhob. Innen ist er weniger schön, finde ich jedenfalls. Eher etwas streng Barock eben, aber das war zu erwarten. Im Dom befinden sich einige Gräber der wichtigsten Könige, die aber durch tragbare Wände vor aller Augen abgeschirmt sind. Wer Durchlaucht schauen möchte, zahle bitte Eintritt und erscheine auch vor eins. Sonst ist geschlossen. Vielleicht hätte ich sogar bezahlt, aber wegen der unmöglichen Öffnungszeiten blieb mir das erspart. Selbst am Nachmittag machen sie nicht auf, nur vormittags. Es sind die üblichen bürokratischen Öffnungszeiten, die eher den Angestellten dienen, als den Besuchern. Aber das ist oft so in europäischen Ländern. Wirklich anders habe ich es in der Türkei erlebt. Da ist eigentlich immer geöffnet. Alles. Hoffentlich werden sie in dieser Hinsicht nicht zu europäisch.

Vom Dom aus lief ich weiter, auf der Suche nach dem Konvent der Kapuziner. Ich fand ihn nach einigen Verwirrungen, doch auch der hatte geschlossen, was ich diesmal aber wusste, denn der Rough Guide teilt mir solche Dinge recht genau mit. Man muss ihn nur genau lesen. Und auch den Hinweisen folgen wollen. Also lief ich wieder zurück zum Dom und ruhte mich dort eine Zeit lang aus. Dabei kam mir die völlige Ineffizienz meines Handelns in den Sinn. Nicht nur war ich zu einer Attraktion weit außerhalb des Zentrums gelaufen, von der ich wusste, dass sie geschlossen war, ich war sogar wieder zurückgegangen, um darauf zu warten, dass ich mich wieder auf den Weg machen konnte. Noch vor einigen Monaten hätte ich mich in ein Café in der Nähe gesetzt und geschrieben. Das fällt mir gar nicht mehr ein, was letztlich dazu geführt hat, dass die Arbeit an meinem Fortsetzungsroman völlig zum Erliegen gekommen ist. Ich scheine aber dieser Tage kaum ich selbst zu sein, so kommt es mir zumindest vor. Ob meine geistigen Fähigkeiten im Sommer stärker sind als im Winter? Eine gewagte These. Wahrscheinlich bin ich zurzeit zu faul.

Auf jeden Fall machte ich mich zeitig wieder auf den Weg zurück. Palermo wird außerhalb des Zentrums richtiggehend hässlich, was man von einer Großstadt auch mal erwarten kann. Dass aber die Strecken grausamst nach Urin stinken und der frische Hundekot sein Übriges zum Aroma beiträgt, machte den Weg nicht gerade appetitlich. So verwunderte es mich doch, dass vor dem Konvent bereits sicher drei Dutzend Menschen warteten. Ich hatte beinahe damit gerechnet, allein hier zu sein. Aber ein Geheimtipp ist das schon lange nicht mehr.
Jetzt habe ich es aber spannend gemacht. Was ich natürlich sehen wollte, waren die Katakomben der Kapuziner. Seit einigen Jahrhunderten bewahren sie ihre Toten dort auf, unbegraben, einfach aufgereiht. Die trockene Atmosphäre hat dazu geführt, dass viele der Toten mumifiziert wurden. Aber nichts hatte mich darauf vorbereitet, was ich zu sehen bekommen sollte. Die Katakomben sind scher einige Hundert Meter lang. Sauber aufgereiht sind die Mumien und Skelette, alle noch in der Kleidung, in der sie „beerdigt“ wurden. Manche von ihnen sind völlig skelettiert, andere dagegen gut erhalten. Man kann ihre Gesichtszüge gut ausmachen, auch wenn sie natürlich stark verzehrt sind. Durch den Zerfall scheinen die meisten zu lachen, was aber eine natürliche Angelegenheit ist. Trotzdem könnte man meinen, der Tod habe ein fieses Grinsen auf den Lippen. Ich lief durch die Reihen, schaute mir die Toten an, dachte daran, was diese Menschen einmal wichtig gefunden, wofür sie gelebt hatten. Waren es gute Menschen? Oder böse? Es spielt gar keine Rolle mehr, war nur wichtig in dem Moment, in dem sie gelebt und gehandelt hatten.
In einer Gruft waren ausschließlich Kinder. Sie hingen wie Puppen von den Wänden, an Drähten aufgehangen. In ihren besten Kleidern präsentierten sie sich. Auch einige Neugeborene waren darunter, merkwürdig gut erhalten.
Die am besten mumifizierte Leiche ist jedoch die der Rosalia Lombardo. Sie starb zweijährig im Jahr 1920. Es ist kaum zu glauben, aber die Zeit hat ihr seither nichts angetan. Die Haut ist etwas grau, doch ihr Gesicht ist voll, die blonden Locken umrahmen noch immer das Antlitz. Der Tod scheint sie nicht aufgenommen zu haben, sie liegt da, als wollte sie gleich aufwachen.
Trotz des Verbotes zu fotografieren, machte ich zwei Aufnahmen. Den Toten macht es nichts mehr, warum pikieren sich also die Lebenden?

Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, das mir wieder gezeigt hat, dass am Tod nichts Dramatisches ist. Selbst die Angehörigen hier, für die er sicher sehr schlimm ist, kann er jetzt nichts mehr bedeuten, denn die werden selbst schon gestorben sein. An manchen Körpern hingen Zettel mit Namen und Todeszeitpunkt. Die meisten Körper stammten aus dem 19. Jahrhundert. Die Dramen des Todes sind also schon lange vorüber. Zumindest für diese Menschen.
Als ich wieder ans Tageslicht kam, hörte ich eine Stimme, die meinen Namen rief. So rasch hatte ich den Tod nicht erwartet. Alles halb so schlimm, es war Leon, ein Holländer, den ich in Catania getroffen hatte. So ein Zufall. Vor allem, weil er und seine Freundin nicht wegen der Katakomben hier waren, sondern einen Campingplatz suchten. Der nahegelegene Camperstop war bereits voll. Wie es ein weiterer, unwahrscheinlicher Zufall wollte, hatte ich mein Garmin dabei, das mir auf der Suche nach den Katakomben geholfen hatte. Samt der SD-Karte mit allen Campingplätzen in Europa. Also konnte ich helfen. Erst später ging mir die Besonderheit der Situation durch den Kopf: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit wohl, dass man jemanden, den man kennt, in Palermo trifft, dieser auch noch dasselbe Navi hat, wie man selbst und alle Informationen, parat auf einem separaten Medium, um rasch zu helfen? Ich hätte heute Lotto spielen sollen. Es ist sicher nicht viel unwahrscheinlicher.

Durch meine Trödelei wurde es ein langer Tag. Ich verpasste einige Busse, die sich wie auf der Hinfahrt durch den Feierabendverkehr quälten. Als ich im Ort ankam, hatte es zu regnen begonnen. Ich rannte also zurück zum Camper.
Trotz des Regens ist es jetzt natürlich sehr gemütlich. Es prasselt aufs Dach, drinnen ist es warm und trocken.
Man kann es schlechter treffen. Den heutigen Abend werde ich bewusst genießen. Ich weiß, wie vergänglich alles ist. Vielleicht muss ich mich nur öfter daran erinnern.