Nikromanteum von Ephyra
Ich habe gestern nicht viel unternommen, denn trotz der reinigenden Wirkung der Krankheit hat sie den Effekt, dass ich mich körperlich nur langsam erhole. Vielleicht ist es auch das Reisen selbst, denn ohne jetzt zurückzublättern kann ich mich entsinnen, nach meiner Rückkehr von Marokko nach Spanien eine ähnliche Phase der Energielosigkeit durchgemacht zu haben. Zum Glück ist das in Griechenland nicht schlimm, die Sehenswürdigkeiten sind meist nie so monumental, dass man stundenlang in der Hitze umherlaufen muss. Hier, auf der Halbinsel hinter Igoumenitsa, war gar nichts. Ich lief an der Teerstraße entlang in den Ort Plataria, der so verschlafen und von Touristen bereits verlassen war, dass ich mich wenig später wieder auf den Weg zum Camper machte.
Auch heute wachte ich nicht besonders erquickt auf, ich schiebe es einmal auf den Jetlag. Eine Stunde Differenz, immerhin. Jetzt wird es wieder später dunkel, mich freut das.
Mein erstes Ziel war das Nikromanteum von Ephyra, ein antikes Orakel etwa 40 Kilometer weiter südlich. Ich habe es ausgewählt, weil es das Vorzimmer der Unterwelt, des Hades war, oder sollte ich schreiben „ist“? Das Orakel liegt direkt über der Flussmündung des Aheronda, des antiken Flusses Styx. Hierher also wurde Persephone entführt, hier spielte sich das Drama des Orpheus ab, der seine geliebte Euridike in den Abgrund entschwinden sah, weil er es nicht aushalten konnte und sich umgedreht hatte, um sie anzuschauen. Diese Einzelheiten sind faszinierend, denn sie bringen den Ort selbst in Kontext zur Geschichte oder hier zur Überlieferung derselben. Anders als beispielsweise in Stonehenge, das ebenso im Nichts der Landschaft steht wie im Niemandsland der Geschichten und Legenden.
Der Ort hier in Griechenland muss uralt sein, älter jedenfalls als die klassische Zeit, denn er ist von Zyklopenmauern umgeben, jenen Meisterwerken aus mykenischer Zeit. Die Steinmetze damals haben riesige Felsbrocken so zurecht gehauen, dass sie nahtlos ineinander passen, wie ein Puzzlespiel, leicht und reibungslos. Heraus gekommen sind massive Mauern, deren Fundamente noch heute stehen, unbeweglich selbst durch die Stürme der Zeit. Seit ich zwanzig bin, lese ich davon, heute aber konnte ich diese Bauwerke das erste Mal mit eigenen Augen sehen. Sie sehen wirklich gigantisch aus.
Das Heiligtum selbst ist nur noch rudimentär vorhanden. Es hatte nie die Bedeutung wie zum Beispiel Delphi, daher ist es recht klein. Doch kann man sich heute noch vorstellen, wie die damaligen Pilger und Ratsuchenden hier umher geführt wurden. Bevor diese jedoch in das „Vorzimmer“ des Hades gelassen wurden, durften sie erst einmal der Priesterschaft spenden. Das Votivzimmer ist extra ausgeschildert. Dann geht es eine Treppe hinab, auf der ich beinahe den Halt verlor. Das Gewölbe mitten im Felsen, düster und bizarr, war also der Ort, wo die Leute versuchten, mit den Toten zu reden. Wie auch in Delphi dürften die Priester mit einigen Halluzinogenen kräftig an der außerweltlichen Erfahrung nachgeholfen haben. Aber das Geschäft mit der Wahrheit und der Religion war immer schon ein gut gehendes.
Früher lag der Hügel mitten im Wasser, man musste mit einer Fähre hinüber rudern. Das hat sicher zur mystischen Stimmung beigetragen, die sich heute allerdings nicht einstellen will.
Mein Aufenthalt hier war im Grunde recht ungestört, außer mir war eine Gruppe von ca. 20 sehr jungen Erwachsenen hier, die mit einem Pelikanblock und Bleistift bewaffnet alle möglichen Motive zeichneten. Ich schaute mir heimlich einige der Werke an und muss sagen, dass die jungen Künstler vor allem eines sind: frei. Frei nämlich von jedem Talent. Ich habe es ihnen aber nicht gesagt.
Kurz bevor ich beschloss zu gehen, kamen zwei Reisegruppen an. Bald schon würde das Orakel umschwärmt sein mit italienischen und deutschen Touristen. Also hatte ich Glück gehabt und mein Zeitfenster gut genutzt.
Es war nicht einmal 11 Uhr und ich hatte bereits getan, was ich heute vorgehabt hatte. Ich beschloss, weiter zu fahren, um mir vielleicht Preveza anzusehen. Also ich dort war, stellte es sich als so hässlich heraus, dass ich es nicht lange aushielt. Auf die zweite Ausgrabungsstätte, Nikopolis, wollte ich heute verzichten, das möchte ich vielleicht morgen in Angriff nehmen. Also suchte ich den Campingplatz, den ich erst nach einigen Umwegen fand. Der Besitzer fragte mich ängstlich, wie lange ich bleiben wolle und atmete erleichtert auf, als ich ihm mitteilte, höchstens zwei Nächte. Er mache nämlich am Sonntag zu. Ich schaute nicht schlecht. Es ist Anfang September und die Saison ist hier vorbei. Ich bin zurzeit wirklich der einzige Gast und ich muss gestehen, es gibt kaum etwas Deprimierenderes. Viele Blätter liegen aufgrund der Hitze am Boden, das Wetter ist umgeschlagen, der Himmel grau, es ist einsam und beinahe kühl. Kommt jetzt der Winter? Ach was, ich fahre morgen weiter in den Süden, das ist eine kleine Sommerdelle, so habe ich jedenfalls entschieden.
Wieder habe ich den halben Nachmittag ausruhen müssen, dann aber viel geschrieben, so dass der Tag sehr erfolgreich war. Der gotische Roman zögert noch, mir an einer Stelle zu zeigen, wie er enden möchte, aber die nächsten Tage wird er es mir schon mitteilen.
Ich jedenfalls fahre morgen definitiv weiter. Es scheint mir hier wie eine Sackgasse, ich bin fast allein, die Gegend sieht ländlich aus. Die genaue Route kenne ich noch nicht, aber ich denke, dass ich morgen sehr nahe an den Peloponnes heranfahren werde. Er ist mein nächstes größeres Ziel auf meiner Fahrt.