Fèz
Der Tag begann sehr langsam. Kaum in der Lage klar zu denken ließ ich mir alle Zeit der Welt. Wegen der Kamera machte ich mir kaum noch Gedanken, gegen 11 Uhr fuhr ich zum Supermarkt und kaufte die Gleiche, die ich mir schon vor zwei Wochen zugelegt hatte. Damit war dieses Thema erledigt. Trotz der nur 3 Kilometer bis zum Campingplatz schaffte ich es mit dem Rad kaum die winzigste Erhebung hoch. Beim Camper angelangt, tat ich allerlei Nützliches, was fast immer zu tun ist. Man denke nicht, weil es ein winziges Gefährt mit nur einem Raum ist, dass wesentlich weniger Haushaltsarbeit anfällt. Eigentlich muss auch immer etwas repariert werden: Schrauben nachziehen oder den Sonnenschirm aufstellen und ausbessern. Winzigkeiten, die mich heute bis Mittag ein Übermaß an Zeit kosteten, doch konnte ich mich nicht dazu durchringen, in die Stadt zu fahren. Erst nach einem starken Espresso ging es mir besser, langsam erhoben die Lebensgeister in mir den Kopf und rieben sich die müden Augen, bald darauf waren sie in vollem Einsatz. Ich packte rasch meine Tasche und machte mich auf den Weg. Die Richtung kannte ich ungefähr, dachte ich zumindest. An Baustellen fuhr ich vorbei, die bald schicke Neubauviertel sein werden, auch an bereits fertiggestellten. Irgendwann kam ich auf die Idee abzubiegen, denn es schienen bereits so viele Kilometer hinter mir zu liegen, dass ich dachte, es wäre besser. War es natürlich nicht, ein Einheimischer schickte mich wieder zurück.
Ich fuhr, bis ich an einer Stelle ankam, von der ich dachte, dass ich sie als Sehenswürdigkeit sicher im Lonely Planet finden würde: den königlichen Palast. Leider suchte ich danach auf der nicht kleinen Karte vergeblich, er war schlichtweg nicht eingetragen. Ich stelle mir das in London vor:
„Excuse me, where do I find the Buckingham Palace?“
„Oh, we decided that it is overrated, so we don’t include it anymore in our guides. It’s not on the map either, to be precise.
Good luck anyway, you might find it after some searching….“
Somit war mein Anhaltspunkt keiner, denn ich wusste immer noch nicht, wo ich war. Ich lief einfach die winzigen Straßen entlang, in der Hoffnung, bereits in der Medina zu sein. Das war ich aber nicht, wie ich bald feststellte, denn dazu war sie zu klein.
Selten hat eine Stadt es geschafft, mir selbst die einfachste Orientierung zu verwehren. Mehrmals kam ich an den gleichen Stellen vorbei, bis ich es wagte, durch ein riesiges Tor zu gehen, hinter dem sich eine Art Markt befand. Jetzt weiß ich, dass ich im jüdischen Viertel, der sogenannten Mellah gewesen war. Trotzdem hatte ich immer noch keine Ahnung, schwamm einfach mit dem Strom der Menge mit, rechts und links Modegeschäfte für Marokkaner, Stoffläden, Eisenwaren und Haushaltssachen. Und am lustigsten: keine Touristen, an denen ich mich hätte orientieren können. Mittlerweile war ich auf der anderen Seite des Palastes, ein Wächter verbot mir, Fotos davon zu machen, ich kam seinem „Vorschlag“ gerne nach, besonders weil ich sein Maschinengewehr als ausdrucksstärkstes Argument nicht ausprobieren wollte. Wenigstens war hier eine Mauer, die laut Karte zumindest ein vager Anhaltspunkt für die Medina sein konnte. Ich lief an ihr entlang, lehnte die spärlichen Annäherungsversuche der „Faux Guides“ lächelnd aber selbstbewusst ab, denn die Blöße, nicht zu wissen, wo ich war, wollte ich mir nicht geben.
Irgendwann erreichte ich mein Ziel. Nach den vielen Windungen hatte ich anscheinend völlig missverstanden, wo Norden und Süden war. Meist kann ich das ungefähr sagen, jetzt aber war ich „verdreht“. Im Grunde war ich in der Medina gleich auf der Straße, oder besser Gasse, in der ich sein wollte, wusste das aber erst, als ich vor der Medersa Bou Inania stand. Sie war mein erster echter Orientierungspunkt, jetzt wusste ich wenigstens, dass ich richtig war, auch wenn ich keine Ahnung hatte, warum ich gerade jetzt da stand, ja, wie ich es verdient hatte, dort zu sein. Bewusst war ich nicht hingekommen. Ich nahm es als gegeben hin und steckte meinen Lonely Planet weg, machte das, was ich eigentlich immer mache, wenn ich eine Stadt erkunde: Ich informiere mich nicht, sondern lasse sie auf mich wirken. Die Talaa Kebira ist im Grunde eine kilometerlange Einkaufsstraße. Sie beginnt mit einer Art Lebensmittelmarkt, dann kommen eine ganze Reihe von Souvenirläden mit den üblichen Produkten. Es riecht immer unterschiedlich, ich liebe Geruch, den Gewürzläden verbreiten. Für mich sind das die Düfte des Orients, fremdartig für mich, doch ungemein anziehend. Oft stehen Berge von einzelnen Gewürzen vor den Läden, sind spitz aufgetürmt in unterschiedlichen Farben, verströmen so reichhaltig ihre Düfte, dass mir im Vorbeilaufen fast das Wasser im Munde zusammen läuft.
Was ich besonders mochte, war die Tatsache, dass ich relativ gesehen in Ruhe gelassen wurde. Der Lonely Planet hatte noch geschrieben, dass besonders junge Männer hier in der Medina auf verlorene Touristen abzielen, die sie dann in irgendein Geschäft ziehen können. Aber nichts dergleichen. Sicher preisen die Händler ihre Waren an, doch empfand ich es als dazugehörig. Vielleicht ist es schon so in Fleisch und Blut über gegangen, dass ich mich daran gewöhnt habe. Das wäre auch nicht schlecht, wenn ich mich an meinen verkrampften ersten Besuch in Tanger erinnere. Wie gesagt, ich verlor mich einfach im Gewirr, stieß irgendwann auf den Place de Seffarine, wo seit Jahrhunderten Blech verarbeitet wird, der mit seinem gleichförmigen Klang den Rhythmus für alle diejenigen vorgibt, die sich dort aufhalten. Es ist fast schon musikalisch, ich hoffe, dass ich den Platz morgen wiederfinde, ich möchte einen Tee hier trinken.
Die berühmten „Tanneries“ fand ich nicht, doch hatte ich nicht danach gesucht. Es sollte an diesem Tag ein erster Eindruck sein, der allerdings bereits viele Stunden gedauert hatte. Eines weiß ich schon, ich mag Féz. Es ist geheimnisvoll, gibt ihre Geheimnisse nicht sofort Preis, fast so wie eine wunderschöne Marokkanerin, die ihre Reize unter ihrem Schleier versteckt, die man höchstens erahnt und sich verbotene Vorstellungen davon macht, was sich darunter verbergen möge. Mal sehen, ob ich es schaffe, den Schleier morgen ein wenig mehr zu lüften.
Ich schloss den Tag mit einem kurzen Spaziergang durch die Ville Nouvelle ab, einen stärkeren Gegensatz hätte ich mir nicht aussuchen können. Eine moderne Stadt, mit allem, was dazugehört. Neue Häuser, Geschäfte, Banken, Szenecafés, alles wie in Europa. Auf dem Rückweg waren die Straßen bereits verstopfter, in den Cafés sah ich kaum noch einen freien Stuhl, das Leben erwachte jetzt, als die Arbeitszeiten vorbei waren.
Ein langer Tag geht langsam zu Ende, ich fühle mich ein wenig fitter und werde den morgigen sicher noch intensiver nutzen.